Was hinter der Supermarkt-Idylle steckt

Matthias Wolfschmidt von foodwatch über Melkroboter, betonierte Stallböden und Krankheiten in der Nutztierhaltung

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Nimmt man das Grundgesetz ernst, ist Tierschutz „Staatsziel“. Tiere, auch solche, die wir essen, seien als „Mitgeschöpfe“ zu achten und zu beschützen. Würden die Tiere lebend im Supermarkt stehen, es wäre ein kleiner Zoo mit Schweinen, Rindern, Puten, Hühnern, Hirschen, Garnelen, Enten, Wachteln, Hasen. Aber sie sind zerlegt und zerrieben, stückweise in Plastik verschweißt, tiefgefroren, pulverisiert oder durch den Fleischwolf gedrückt, in Konservendosen gepresst, als Rohstoff mit anderen Rohstoffen vermengte unsichtbare Zutaten unseres täglichen Essens. Verarbeitet in Pizzen, Milchcremeschnitten, Schokopudding, Keksen, Süßigkeiten. Denn der Supermarkt ist ein einziges Tier-Illusionstheater. Manchmal mit Kulissen idyllischer Landschaften, gesunder Tiere und uriger Bauern. Häufig nebulös wie all die Schweineschwarten, die als „Gelatine“ in Haribo-Tüten versteckt sind. Das Zutaten-Schwein bleibt ungenannt, dafür zeigt die Verpackung den Haribo-Goldbären.

Krankheiten sind systemimmanent

Der Veterinärmediziner Matthias Wolfschmidt (53) ist einer der Macher der Verbraucherorganisation foodwatch International und Autor des Buches Das Schweinesystem – Wie Tiere gequält, Landwirte in den Ruin getrieben und Verbraucher getäuscht werden, ISBN 9783100025463, 18 Euro.

Mit Ausnahme von vegan lebenden Verbraucher*innen (circa ein Prozent) konsumieren etwa 99 Prozent der Bevölkerung mehr oder weniger häufig diese Supermarkt-Illusionen. Darin gibt es keine Melkroboter und betonierten Stallböden ohne Stroh, keine stundenlangen Tiertransporte und erst recht keine Schlachthöfe, keine Muttersauen, die wochenlang fast bewegungslos zwischen stählernen Stangen ausharren müssen; keine Euterentzündungen, verletzten Gelenke, kupierten Schwänze, keine abgeschliffenen Zähne, keine kranken Organe, keine massenhaften Antibiotikagaben.

Aber all dies gehört zum Alltag von Millionen von Nutztieren, von den Wissenschaftlern seit fünfzig Jahren (!) als „Produktionskrankheiten“ beschrieben. Denn diese Krankheiten entwickeln sich aufgrund vielfältiger Interaktionen der Tiere vor allem mit dem Nährstoffangebot, krankmachenden Keimen und verschiedenen Einflüssen der Haltungsbedingungen. All diese Faktoren wirken auf das Tier ein, weshalb Erkrankungen von Nutztieren nicht ohne die Einbeziehung ihres gesamten Lebensumfelds verstanden, verhindert oder geheilt werden können. Produktionskrankheiten sind daher systemimmanent. Trotzdem unterliegen all diese Produktionskrankheiten keiner staatlichen Erfassung, geschweige denn Kontrolle oder Regulierung: Jedes dritte Schwein entwickelt mehr oder minder schwere Lungenentzündungen und Leber- oder Gelenkserkrankungen – innerhalb seiner nur sechsmonatigen Lebenszeit. Die kranken Organe und Körperteile werden weggeschnitten, „wie braune Stellen an einer Frucht“, schreibt der Schlachtkonzern Westfleisch. Der „gesunde“ Rest wandert ganz normal ins Supermarktregal.

Wer trägt die Verantwortung?

Die heutigen Hochleistungs-Legehennen können gar nicht so viel Kalzium aufnehmen, wie sie benötigen, um Schalen für die mehr als 300 Eier zu bilden, die sie im Jahr legen. Also ziehen ihre Körper das Kalzium aus den Knochen mit der Folge massenhafter Brüche. Berufsrisiko – so wie Eileiterentzündungen und Kannibalismus. Masthühner werden in 35 Tagen schlachtreif. Massenhafte Kollateralschäden an Füßen, Gelenken, Herz und Kreislauf inklusive. Und zur Stellenbeschreibung der Milchkühe gehören Euterentzündungen, Unfruchtbarkeit, Klauenschäden, Stoffwechselstörungen. Auf manchen Höfen sind 70 oder gar 80 Prozent der Tiere betroffen, auf anderen kaum eines! Das gilt, auch wenn es vielen bewusst Einkaufenden nicht gefällt, für den Mega-Stall genauso wie für das Öko-Idyll.

Wissenschaftlich ist längst klar, dass die Antwort auf die Frage nach Gesundheit und Krankheit ein diffizil aufzudröselndes Bündel ist, in dem Züchtung, Fütterung, Haltung, Leistung, Transport und – oft unterschätzt – Stallmanagement ineinander spielen. Landwirt*innen müssen genügend Zeit und exzellentes Know-how haben, um es gut machen zu können. Vieles spricht dafür, dass die Höchstleistung und das Kostendiktat der Lebensmittelkonzerne Tiere wie auch Tierhalter* innen überfordern. Das Illusionstheater im Supermarkt und die Agrarpolitik übertüncht das alles – oder schiebt den Verbraucher*innen die Verantwortung dafür zu.

Matthias Wolfschmidt
foodwatch International