Neue Temperaturrekorde am Polarkreis beschleunigen das Auftauen der Erde
Wochenlang brannten in diesem Sommer Wälder nördlich des Polarkreises, Sibirien war besonders betroffen. Dort, wo die Erde permanent gefroren ist und die Temperaturen selten über den Gefrierpunkt klettern, wurden plötzlich Spitzenwerte von 38 Grad Celsius gemessen.
Permanent gefrorene Erde, der sogenannte „Permafrost“: Ein Viertel der Landfläche der Nordhalbkugel ist dauerhaft gefroren. Alaska, Nordkanada, weite Teile Sibiriens – auf 23 Millionen Quadratkilometern wirkt dieser Frostboden wie eine riesige Tiefkühltruhe: In ihm sind gigantische Mengen abgestorbener Pflanzenreste eingeschlossen. Taut das Eis, kommen Luft und Mikroben an diese Reste, die zersetzt und dabei in Treibhausgase wie Lachgas, Methan oder Kohlendioxid umgewandelt werden. Dieses sogenanntes Kippelement heizt den Klimawandel weiter an: Einmal in Gang gesetzt, lässt sich der Prozess nicht wieder aufhalten.
Methan ist in der Erdatmosphäre rund 25-mal so klimawirksam wie Kohlendioxid, Lachgas sogar 298-mal. Allein im oberen Bereich der Permafrostböden stecken bis zu 1.600 Milliarden Tonnen Kohlenstoff. Das ist fast doppelt so viel, wie sich derzeit in der gesamten Erdatmosphäre befinden. Wird auch nur ein kleiner Teil davon frei, wäre das eine Katastrophe: Die freiwerdenden Treibhausgase beschleunigen den Tauvorgang, was noch mehr Pflanzenreste freisetzt, was noch mehr Treibhausgase erzeugt und den Tauvorgang noch weiter beschleunigt. Ein Teufelskreis: Die Grenze des dauergefrorenen Bodens ist bereits rund 100 Kilometer in den Norden gewandert.
Bereits ausgerottene Krankheiten kehren zurück
Doch nicht nur für die Erderhitzung birgt die sich öffnende Kühltruhe gigantische Gefahren. „Sonne weckt tödliche Bakterien im Permafrost“, titelten im Sommer 2016 die Zeitungen. Damals war es im Nordwesten Sibiriens so ungewöhnlich warm wie in diesem Sommer, die Temperaturen kletterten am Polarkreis im Juni und Juli auf bis zu 35 Grad Celsius. Plötzlich erkrankten Menschen an Milzbrand, einer hochansteckenden Krankheit, die seit 1941 in Sibirien als ausgerottet galt.
Russische Expert*innen gehen davon aus, dass Sporen des Bacillus anthracis jahrzehntelang gefroren in vergrabenen Kadavern überlebten, dann aber von den ungewöhnlich hohen Temperaturen wieder zum Leben erweckt wurden. Eine Epidemie konnte 2016 nur verhindert werden, weil die dünn besiedelte Region schnell abgeriegelt, mehr als 40.000 Rentiere geimpft wurden.
Niemand weiß, was der Permafrost noch so alles verborgen hält. Mit dem Auftauen gibt er aber immer neue Funde preis: Belgische Biolog*innen beschrieben in einer Studie mit dem sinnigen Titel „Zurück in die Zukunft in einer Petrischale“, welche Gefahr von im Permafrost eingefrorenen Mikroben ausgehen kann. Sie hatten in 700 Jahre altem Karibu-Kot zwei Viren gefunden, die sie im Labor wiederbeleben konnten. „Bemerkenswerterweise waren diese Viren auch nach 700 Jahren im Eis noch intakt und infektiös“, schreiben die Autor*innen.
2014 entdeckten französische Forschende einen Riesenvirus, der zuvor 30.000 Jahre im Eis überdauert hatte. Pithovirus sibericum ist mit seinen 0,0015 Millimetern in etwa so groß wein Bakterium und gehört zu einer bis dato unbekannten Familie. 2015 fanden Wissenschaftler*innen im Permafrost dann den Sibirischen Weichvirus, Mollivirus sibericum: Auch dieser Erreger war rund 30.000 Jahre alt und konnte im Labor wieder zum Leben erweckt werden. Zwar glauben die Forscher*innen, dass Riesenviren für den Menschen ungefährlich sind. Besser ist aber offensichtlich, der Permafrost würde solche Geheimnisse genauso für sich behalten wie die Treibhausgase.
Klimaschutz wird politisch boykottiert
Aber scheinbar liegt den Deutschen nichts daran: Noch vor der Sommerpause verabschiedete der Bundestag ein Gesetz, das fälschlicherweise „Kohleausstiegsgesetz“ genannt wird. Da ist zuerst die Laufzeit: In Deutschland sollen demnach Kohlekraftwerke bis zum Jahr 2038 betrieben werden dürfen und die besonders klimaschädlichen Braunkohlekraftwerke gehen erst zum Schluss vom Netz. Für die Ziele des Paris-Protokolls, das ja alle EU-Staaten in nationales Recht umgesetzt haben, kommt schon ein europäischer Kohleausstieg im Jahr 2030 zu spät. SPD und Union torpedieren mit ihrem Gesetz jeglichen Klimaschutz.
Dass die USA oder China mit einem Ausstieg aus der Kohleverstromung anfangen, ist unwahrscheinlich. Das Mutterland des Kohlekapitalismus – Großbritannien – will dagegen spätestens 2024 sein letztes Kohlekraftwerk vom Netz nehmen, Frankreich, Portugal und die Slowakei bereits 2023. Spanien schloss im Juni die Hälfte seiner Kohlekraftwerke, 2025 soll dort Schluss sein. Schweden, Österreich und Belgien sind bereits kohlefrei, Dänemark, die Niederlande und Finnland wollen aus der Kohleverstromung spätestens 2030 aussteigen.
Die Große Koalition boykottiert mit ihrem Kohleausstiegsgesetz aber nicht nur den Klimaschutz. Ausgerechnet die SPD belohnt die Kapitalist*innen für ihre verfehlte Geschäftspolitik (bei der Union wundert man sich darüber schon lange nicht mehr).
Nicht nur, dass die Aktionäre der deutschen Kohlekonzerne für ihre klimaschädliche Geschäftspraxis ungeschoren davon kommen. Sie werden auch noch mit Förderprogrammen in Höhe von vier Milliarden Euro belohnt – für die Umrüstung von Kraftwerken, wie es heißt. Entsprechend jubilierte die Kohlelobby. Der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft urteilte: „Im Grundsatz erfreulich sind die vorgesehenen Regelungen, mit denen entschädigungsfreie Stilllegungen von Kraftwerken vermieden werden sollen.“
C02-Höchststand trotz Corona-Krise
Nicht nur, dass alte Kohlekraftwerke bis zum Jahr 2038 laufen dürfen. In Deutschland ging gerade ein neues Kohlekraftwerk ans Netz: Datteln IV, das 1.050 Megawatt leistungsstarke Kraftwerk in Nordrhein-Westfalen. Nach Berechnung des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung dürfte der Steinkohleblock während seiner Laufzeit 40 Millionen Tonnen des Klimakillers Kohlendioxid zusätzlich ausstoßen – selbst wenn im Gegenzug ältere Steinkohlekraftwerke abgeschaltet werden.
Die Kohlekommission hatte empfohlen, das Kraftwerk stillzulegen, als Teil des Kompromisses zum Kohleausstieg. Union und SPD ignorierten das. Dabei steigt die Kohlendioxidkonzentration in der Atmosphäre immer weiter an – trotz der Corona-Pandemie. Zwar wurde im diesjährigen Frühling weltweit täglich rund 17 Prozent weniger Treibhausgas emittiert. Dennoch haben Wissenschaftler*innen im Mai den Höchststand von rund 418 Molekülen pro Million „Luftteilchen“ (parts per million, ppm) gemessen – drei mehr als vor Jahresfrist.
Grund für dieses scheinbare Paradox ist die Trägheit, mit der die atmosphärische Treibhausgas-Konzentration auf kurzfristige Veränderungen reagiert. Daraus lässt sich auch ableiten, dass für den Klimaschutz ein langer Atem notwendig ist: Selbst wenn die internationale Staatengemeinschaft sich entschließen sollte, jetzt doch wirklich Klimaschutz zu betreiben, werden sich kurzfristig keine Änderungen am durcheinander geratenen Wetter ergeben.
Auch die Hitze dieses Sommers nördlich des Polarkreises ist kein Zufall: Forscher*innen der Initiative „World Weather Attribution“ haben mithilfe von Computersimulationen den Einfluss des Klimawandels auf die Hitze in Sibirien ermittelt. Die Kohlendioxid-Verschmutzung der Atmosphäre hat demnach die ungewöhnlich hohen Temperaturen 600-mal wahrscheinlicher gemacht.
Nick Reimer