Riders on the Storm

Bei den neuen Lieferdiensten zeigen sich die Schattenseiten der Plattformökonomie

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Stolz nennen sie sich Riders. Diane ist eine von ihnen. Sie tritt in die Pedale für den Fahrradlieferdienst Gorillas und kommt aus Lateinamerika. Sie sagt, es sei kein Zufall, dass sich so viele Migrant*innen in einem ganz bestimmten Arbeitsmarktsegment (Reinigung, Gastronomie, Lieferdienste) mit schlechten Arbeitsbedingungen befänden, denn ihre Situation mit unsicherem Status werde bei einigen Arbeitgeber*innen ausgenutzt. Viele Beschäftigte kommen aus Lateinamerika und Asien. Verkehrssprachen im Unternehmen sind Englisch und Spanisch.

Im letzten Herbst kam es bei den Gorillas zu Arbeitskämpfen. Einer, den seine Kolleg*innen Geronimo nannten, hatte sich für bessere Konditionen und einen Betriebsrat eingesetzt. Im Rahmen eines Arbeitsvertrages mit langer Probezeit wurde er entlassen. Ein sogenanntes „workers collective“ als selbst gewählte Organisationsform rief zu Warnstreiks auf. Wer sich beteiligte, musste mit Entlassung rechnen und so kam es auch. Denn in Deutschland streikt man nicht einfach ohne eine DGB-Gewerkschaft im Rücken. Sogenannte „wilde Streiks“ werden von Arbeitsgerichten als Störung des Betriebsfriedens gewertet und können ein Kündigungsgrund sein. Was aber steckt hinter den Gorillas und anderen Lieferdiensten, die wie Pilze aus dem Boden schießen?

Delivery Hero
Die Firma ist das einzige DAX-Unternehmen, das noch nie Gewinn gemacht hat. Es unterhält zahlreiche Lieferdienste im Ausland und hat gerade die Mehrheit des 2015 in Spanien gegründeten Lieferdienstes Glovo übernomen, der mit 2,3 Milliarden Euro bewertet wird und in 25 Ländern aktiv ist. Delivery Hero tut sich auf dem hoch defizitären Heimatmarkt schwer. Stattdessen setze man lieber auf Expansion in Asien und Osteuropa, so der Vorstandsvorsitzende Östberg. In Deutschland hat man sich mit zehn Prozent an Gorillas beteiligt, denen man mehr zutraut als der eigenen Marke Food Panda, deren 800 Fahrradkurier*innen künftig eine Gorillas-Uniform tragen.

Gorillas ist ein Berliner Start-up, das für bestimmte ausgewählte Stadtteile das Versprechen abgab, jede über seine App eingehende Bestellung von Lebensmitteln innerhalb von zehn Minuten per Fahrrad auszuliefern. Wem es also um 22:00 Uhr noch an seiner oder ihrer Zimtschnecke und Hafermilch mangelt, muss nicht mehr das Haus verlassen.

Um das Lieferversprechen einhalten zu können, muss Gorillas seine Warenlager mitten in Wohngebieten platzieren. Wegen der hohen Umschlaggeschwindigkeit der Waren bedeutet das für die Anwohner*innen beständige Lärmbelästigung durch Lkw-Lieferverkehr. Initiativen gegen Immobilienspekulation vermuten, dass einige Vermieter*innen ein solches Warenlager in ihre Wohnanlage integrieren, um eine gewollte „Entmietung“ zu beschleunigen. So kommt es zum Teil zu völlig ungeeigneten Standorten der Warenlager. Bürgersteige werden halbiert, um Abstellplatz für die Fahr- und Lastenräder zu schaffen. Überhaupt gehört es zum Geschäftsmodell der Plattformökonomie, so viel wie möglich an vorhandener Infrastruktur kostenlos zu nutzen.

getir
Auf Türkisch heißt getir bringen. Das Start-up aus Istanbul bietet angeblich den „ultraschnellen“ Lieferdienst für Lebensmittel und Restaurants in weniger als zehn Minuten. Obwohl bisher nur Lieferungen in 30 türkischen Städten, in London, in Amsterdam und in Berlin erfolgen, wurde das Unternehmen nach eigenen Angaben Ende 2021 mit 7,5 Milliarden US-Dollar bewertet. In Deutschland expandiert Getir in Hamburg, Köln, Düsseldorf, Dortmund, Essen und in eine süddeutsche Stadt. Geplant sind für die nächsten zwei Jahre 10.000 Rider.

Genutzt hat den Lieferdiensten die Pandemie, wobei Kund*innen gerne übersehen, dass auch Lieferant*innen Viren übertragen, vor allen Dingen dann, wenn sie Wartezeiten bei Regen in den beengten Warenlagern ohne Sozialräume nutzen, um sich aufzuwärmen. Nun ist der Marktanteil der Fahrradlieferdienste am Lebensmittelhandel nach wie vor lächerlich gering und Geld verdienen sie an ihrem operativen Geschäft auch nicht, sondern verbrennen es mit wachsender Geschwindigkeit. Wie ist das möglich? Zunächst geht es im Turbokapitalismus darum, rasch Marktanteile zu gewinnen, in der Hoffnung, das nächste Amazon zu werden. Während die Tellerwäscher*innen dieser Welt ihr Leben lang vom Millionär*innendasein träumen dürfen, hatte sich der Traum für die Gründer*innen der Firma Gorillas nach neun Monaten erfüllt. Da wurde das Unternehmen am Kapitalmarkt mit einer Milliarde Euro bewertet, aktuell sollen es sogar drei Milliarden sein.

Flink
Das Berliner Start-up war bisher ganz ähnlich unterwegs wie die Gorillas und dessen direkter Konkurrent. Mit der REWE ist 2021 ein Anteilseigner eingestiegen, dessen Chef Lionel Soque sich überzeugt gibt, „dass wir durch unsere Kooperation im Bereich Ware einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, dass Flink zur Nummer eins in seinem Segment in Deutschland wird“. Im Zuge der Pandemie habe sich das Liefergeschäft im Lebensmitteleinzelhandel mehr als verdoppelt.

Vorgemacht hatte es ein bieder daherkommendes Start-up aus Münster, das sich Flaschenpost SE nennt. Sein Lieferversprechen: Jeder Geränkekasten wird innerhalb von 120 Minuten in Münster und einigen anderen ausgesuchten Städten ausgeliefert. Der Clou dabei ist ein von der Firma entwickelter Algorithmus, der aufgrund der gesammelten Kund*innendaten ziemlich genau vorausberechnen können soll, wie die künftigen Bestellungen aussehen werden und damit sein Warenwirtschaftssystem steuert. Nach Berichten des Handelsblattes soll der regionale Getränkelieferant 2020 für sage und schreibe eine Milliarde Euro über die Ladentheke gegangen sein. Käufer war Radeberger, Deutschlands größte Brauereigruppe, die wiederum dem Dr.-Oetker-Konzern gehört, der seinen „Durstexpress“ mit dem Neuerwerb fusionierte und die gewonnenen Erkenntnisse für seine Beteiligung „Getränke Hoffmann“ nutzt.

Knuspr
Knuspr (in Österreich Gurkerl) ist ein tschechisches Start-up, gehört zur Rohlik-Gruppe und ist nach eigenen Angaben Marktführer für Online-Supermärkte in Zentraleuropa mit Aktivitäten in Tschechien, Ungarn, Österreich und neuerdings mit einem Standort in Garching (München) auch in Deutschland. Italien, Rumänien und Spanien sollen 2022 folgen. Im Gegensatz zu den anderen Lieferdiensten handelt es sich um einen Vollsortimenter, der damit Lebensmittelgiganten wie REWE angreifen will.

Doch längst geht es nicht nur um den deutschen Markt, sondern verschiedene Player konkurrieren international. Dabei werden alle Möglichkeiten ausgenutzt, die Fahrer*innen in die Scheinselbstständigkeit zu drücken und jegliche gewerkschaftliche Betätigung zu behindern. Erst jüngst ist der US-Gigant DoorDash (er verpflichtet seine Essenszusteller*innen zu einem eigenen Fahrzeug ähnlich wie Uber bei der Personenbeförderung) in Deutschland angetreten und will in Stuttgart den Markt testen. Gefragt, ob DoorDash einen Betriebsrat fördern werde, antwortete der Pressesprecher, man wolle gar kein eigenes Personal beschäftigen, sondern habe damit eine Agentur betraut. Umgekehrt beklagen die Gewerkschaften in den USA, der deutsche Kochboxlieferant Hello fresh tue alles, um eine Gewerkschaftsgründung in seinen US-Filialen zu verhindern.

naturfreundin_1-22-1_titel_klein.pngDie Märzausgabe 2022 des NaturFreunde-Mitgliedermagazins NATURFREUNDiN hat sich in der Titelgeschichte mit dem Radfahren beschäftigt.

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Eine Branche, die sich als modern und divers in der Werbung anbiedert, schreckt vor nichts zurück, um möglichst ungehindert im Niedriglohnbereich ihre Leistungserbringer*innen ausbeuten und digital überwachen zu können. Nachdem oberste Gerichte in einigen Ländern den Fahrradkurier*innen Arbeitnehmer*innenstatus zugesprochen hatten, drohten die Unternehmen, das betreffende Land lieber verlassen zu wollen. Auch das Bundesarbeitsgericht hat einen Essenslieferanten 2021 dazu verpflichtet, Ridern internetfähige Handys und verkehrstüchtige Fahrräder als Arbeitsmittel zur Verfügung zu stellen.

Es wird Zeit für international anwendbare gesetzliche Regelungen. Spanien hat es vorgemacht und für seinen Arbeitsmarkt ein „Ridergesetz“ (Ley riders) verabschiedet. Das hat wohl auch die EU-Kommission dazu bewogen, den Mitgliedstaaten eine Regelung von Mindeststandards vorzuschlagen. Sie spricht davon, dass in der EU 28 Millionen Menschen für Plattformanbieter tätig seien. Bei Lieferdiensten und in der digital gesteuerten Plattformökonomie entsteht eine neue Schicht der Arbeiterklasse, deren Organisation sich die Gewerkschaftendringend annehmen müssten. Die Ausweitung der Plattformökonomie wird weitere Wirtschaftsbereiche erfassen und bedarf einer klaren Regulierung und gewerkschaftlicher Gegenmacht.

Hans-Gerd Marian