Die Schwachstelle der Industriegesellschaften ist ihre Abhängigkeit von fossilen Energien
„Die steigenden Spritpreise sollten nicht zu einem populistischen Wettlauf um angebliche Entlastungen und kurzfristige Lösungen führen“, mahnten der Bundesvorsitzende der NaturFreunde Deutschlands Michael Müller und der umweltpolitische Sprecher des Verbandes Eckart Kuhlwein heute in Berlin. „Der Anfang vom Ende der fossilen Mobilität darf kein Tummelplatz für Populisten sein“, warnte Kuhlwein. Müller forderte von Politik und Öffentlichkeit eine Debatte über den schnellsten Übergang in ein postfossiles Zeitalter: „Die offiziellen Prognosen der großen Ölkonzerne gehen von einer Reichweite von 42 Jahren aus. Das bedeutet: Die Knappheit beginnt heute, die Zeit zum Umbau wird knapp.“
Auch wenn sich die Wut der Bürger über die steigenden Kraftstoffpreise täglich vergrößert, diskutieren Politik und Öffentlichkeit selten mehr als kurzsichtige Lösungsansätze. Dass ausgerechnet der Bundesumweltminister eine höhere Pendlerpauschale fordere, statt auf die Herausforderung der steigenden Ölpreise mit einem sozialökologisch verträglichen Konzept zu reagieren, sei laut Müller besonders peinlich. Denn tatsächlich erlebten wir eine historische Zäsur: „Peak Oil, der Höhepunkt der wirtschaftlich vertretbaren Ölförderung, ist da. Das wird von den großen Ölkonzernen ausgenutzt, auch weil es keine Strategie ‚weg vom Öl‘ gibt. Das Zeitalter des fossilen Verkehrs geht zu Ende. Alles andere ist Zweckoptimismus. Doch es werden immer mehr Vorstadtpanzer von BMW, Audi oder Daimler-Benz gekauft.“
Entziehungskuren für ölsüchtige Lände scheitern
Die Schwachstelle aller Industriegesellschaften sei ihre Abhängigkeit von den fossilen Energien. „Obwohl die Gefahren längst bekannt sind, kommt es nicht zu einem konsequenten Umstieg“, kritisierte Kuhlwein. „Stattdessen werden Lagerstätten in riskanten Regionen angezapft, verbunden mit gewaltigen Problemen und großen ökologischen Gefahren. Das Desaster im letzten Jahr im Golf von Mexiko entsprang der puren Not, den Produktionsrückgang auf den alten Ölfeldern durch immer riskantere Fördermethoden auszugleichen. Es war die bisher härteste Warnung, endlich die Grenzen des Wachstums zu beachten“, so Kuhlwein.
Bereits Ende der 1970er-Jahre wollte US-Präsident Jimmy Carter seinem ölsüchtigen Land, in dem billige Kraftstoffe und große Autos zum alltäglichen Lebensgefühl gehören, eine Entziehungskur verordnen. Ein nationales Energieprogramm sollte die Importe auf sechs Millionen Barrel täglich verringern. Doch Carter scheiterte am Widerstand der sieben großen Ölkonzerne in seinem Land. 1979 unterzeichnete er stattdessen die Direktive „Rapid Deployment Force“ zur Bildung einer mobilen Einsatztruppe, die den Zugriff auf die Ölquellen der Golfregion sichern sollte.
„Das Weltreich des Verkehrs ist die Grundlage unserer Modernität. Es baut auf Öl auf. Doch seit 2005 ist das Plateau der Ölförderung erreicht, die Ergiebigkeit der großen Felder geht zurück“, warnte Michael Müller. In den letzten 30 Jahren habe es an Land keine nennenswerten neuen Funde gegeben, sie seien nach Ansicht der Geologen auch nicht zu erwarten. Obwohl der Abbau von Teersanden, der etwa im kanadischen Bundesstaat Alberta Mondlandschaften mit gewaltigen ökologischen Schäden hinterlasse, schon in die Fördermenge eingerechnet sei, könne der Rückgang der Förderung aus den alten Ölfeldern nicht ausgeglichen werden. „Der Höhepunkt wird nicht, wie die Ölkonzerne behaupten, erst in den nächsten Jahrzehnten erreicht, selbst wenn die Funde in der Arktis oder der Tiefsee tatsächlich erschlossen würden. Mit der Tiefe erhöht sich allein das Risiko – und zwar exponentiell“, erklärte Müller.
Öl ist die Geschäftsgrundlage der Moderne
Das Endspiel des Ölzeitalters bedeute einen epochalen Umbruch, der mit der industriellen Revolution vergleichbar sei: eine gesellschaftliche Transformation. „Das Öl war in den letzten sechs Jahrzehnten der Treiber, der die Entwicklung der Wirtschaft, das Bild unserer Städte und die Lebensgewohnheiten der Menschen geprägt hat“, betonte Müller. Öl sei quasi die Geschäftsgrundlage der Moderne geworden. Und das immer mehr auch aus Tiefseeregionen, die Ende dieses Jahrzehnts schon zehn Prozent der globalen Ölversorgung abdecken sollen. Nach üblichen Maßstäben dürften Bohranträge dort aber nicht genehmigt werden. Doch das Tina-Syndrom – there is no alternative – begründe den Wettlauf der Besessenen.
„Wir stehen am Anfang vom Ende des fossilen Zeitalters“, erklärte Eckart Kuhlwein. Der trete nämlich nicht erst dann ein, wenn der „letzte Tropfen Öl“ verbraucht sei, sondern wenn die wachsende Nachfrage nicht mehr durch ein steigendes Förderangebot befriedigt werden könne. Auf dem Gipfel angelangt, sei das Spiel vorbei und der Abstieg beginne. „Für das Klima ist das gut, aber die Akteure in Wirtschaft und Gesellschaft sind darauf nicht vorbereitet“, warnte Kuhlwein. In Kürze würden eine Milliarde Fahrzeuge unterwegs sein. In Deutschland kämen heute 560 Fahrzeuge auf 1.000 Einwohner, in China seien es nicht einmal 25 Autos. Im bevölkerungsreichsten Land der Erde kämen aber jährlich zehn Millionen Fahrzeuge dazu und damit doppelt so viele, wie in Deutschland produziert werden.
Es geht um weit mehr als den Austausch der Brennstoffe
„Die Zeit für ein Umsteuern wird knapp, aber in unserem Land beruhen der Bundesverkehrswegeplan, das Nationale Hafenkonzept für die See- und Binnenhäfen oder das Flughafenkonzept der Bundesregierung noch immer auf der Annahme, dass billiges Öl weiterhin reichlich vorhanden ist“, kritisierte Müller. Es gehe aber um weit mehr als den Austausch der Brennstoffe. Der fossil angetriebene Verkehr sei schließlich genau so systemrelevant wie die Finanzwirtschaft. Es gebe keine einfache „Bail-out“-Möglichkeit mit Abwrackprämien. „Womit soll denn der Schiffsverkehr, das Rückgrat der internationalen Arbeitsteilung, angetrieben werden? Womit der Güterflugverkehr und der Güterfernverkehr auf den Straßen“, fragte Müller.
Lösungen, die es bereits gebe, würden bisher aber kaum genutzt, wie etwa Geschwindigkeitsbegrenzungen und Flottenverbrauchsregelungen oder Pedelecs und E-Scooter, die sofort weniger Ölverbrauch und geringere Treibhausgas-Emissionen bedeuteten. Auch im Schiffsverkehr sei es innerhalb weniger Monate möglich, Treibstoffeinsparungen um 30 bis 50 Prozent durch eine Senkung der Geschwindigkeiten von etwa 24 auf 19 Knoten zu erzielen. Zukunftsweisend seien auch moderne Formen des Windantriebs für Frachtschiffe.
Die postfossile Mobilität geht vom Menschen aus
„Der Abschied vom fossilen Verkehr steht an“, unterstrich Michael Müller. Das Umsteuern zu einer postfossilen Mobilität sei längst überfällig. Dabei gehe es aber um mehr als die lautstark propagierten auf Technik fixierten Lösungen. „Die postfossile Mobilität geht vom Menschen aus“, betonte Eckart Kuhlwein: „Das Zufußgehen wird nicht länger ein Restverkehr sein wie etwa in der Gedankenwelt fossiler Verkehrsplanung, sondern eine tragende Säule der Körperkraftmobilität. Auch das Fahrradfahren steht erst am Beginn seines Aufstiegs. In Kopenhagen etwa, einer Stadt mit höchster Lebensqualität, ist das Fahrrad das Rückgrat des Alltagsverkehrs“, so Kuhlwein. Und in der Schweiz werde der „Langsamverkehr“ zur dritten Säule der Verkehrspolitik – neben dem motorisierten Individualverkehr und dem öffentlichen Verkehr.
Kuhlwein und Müller abschließend: „Um eine postfossile Mobilität wirklich zu erreichen, brauchen wir ein gigantisches ökologisches Zukunftsprogramm, das auch die verschwenderischen und ineffizienten Raum- und Siedlungsstrukturen umbaut sowie die Arbeitsteilung neu ordnet.“
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