Das gemeinsame Wandern stand gleich am Anfang der organisierten NaturFreunde. Und seit der Gründung als „touristischer Gruppe“ im Jahr 1895 blieb es natursportliche Kernaktivität in einem sich ansonsten stetig weitenden Tätigkeitsspektrum. Unumstritten war das zu Beginn keineswegs: Sollte die „freie Zeit“ der klassenbewussten Arbeiterschaft der Erholung oder dem Kampf für eine bessere Gesellschaft dienen? Im NaturFreunde-Konzept des Sozialen Wanderns verbanden sich dann beide Zwecke.
Allerdings gab es zunächst noch keinen eigenen Namen dafür. Den NaturFreund*innen diente das Wandern nicht nur der Erholung, sondern ermöglichte auch das Erleben von Solidarität in der eigenen Bewegung sowie die Propagierung sozialer und politischer Ziele. Den Menschen sah man dabei ganzheitlich als soziales, kulturelles, politisches, lernendes und natürlich auch als sportliches Wesen.
Ein kontroverses Konzept
Den Begriff Soziales Wandern brachten im Jahr 1911 dann zwei Autoren ins Spiel: Der Leipziger Gustav Hennig beschrieb ein solidarisches „Wir“ beim Wandern und: „Wer draußen Menschen menschlich nach ihrer Art begegnet, der wird namentlich viel mehr lernen als aus dicken Folianten.“ Und der österreichische Journalist Max Winter erklärte: „Nicht die Zahl der zurückgelegten Kilometer bringe heim, sondern die erweiterte Einsicht in das vielgestaltige Leben der Menschen. Das ist soziales Wandern!“ Die touristisch erfahrene Umwelt sollte in ihrer geschichtlichen und sozialökonomischen wie auch in ihrer geologischen oder biologischen Struktur verstanden werden.
In den 1920er-Jahren konkurrierten dann zwei Konzepte: Sollte das Wandern zuallererst politischer Praxis dienen oder war es eher Teil der Kultur- und Erziehungsarbeit? Der Zentralausschuss der deutschen Reichsgruppe betonte 1924 das Wandern als Teil der „sozialistischen Kulturarbeit“ der NaturFreunde. Der sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Karl Schreck, Mitglied der NaturFreunde-Reichsleitung, reduzierte das Soziale Wandern anlässlich einer Wanderleiterschulung auf bewusstes und kontaktoffenes Bewegen in den Zielregionen. Es setze voraus, nicht arrogant oder besserwisserisch aufzutreten.
Eine Gegenposition mit „revolutionärem“ Anspruch formulierte Otto Jensen 1924 in der Zeitschrift Urania: Es komme darauf an, das „arbeitende Volk“ nicht nur zu sehen, sondern mit ihm in engsten Kontakt zu kommen, weil man „einer der Ihrigen“ sei. Ebenfalls in der Urania schrieb Herbert Frister: Für das Proletariat sei die Ferienreise nicht nur ein weltfremdes romantisches „In die Natur versenken“, sondern ein Bildungsfaktor erster Ordnung. Wobei man heute nicht vergessen darf, dass eine Ferienreise damals meist aus einer langen Wandertour bestand.
Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der innerverbandliche Diskurs über das Soziale Wandern fortgeführt: Bereits in der ersten Nachkriegsausgabe der neuen Mitglieder-Zeitschrift Wandern + Bergsteigen betonte der Frankfurter NaturFreund August Schuy die Bereicherung des Erlebens beim Sozialen Wandern. Voraussetzung sei nur „unser Interesse an sozialen Verhältnissen überhaupt“. Es gelte, nicht nur die Werke der Natur aufzunehmen, sondern „mit wachen kritischen Augen“ auch das „Menschenwerk“ zu sehen!
Soziales Wandern im Wandel der Zeit
Allerdings verlor die Theorie des Sozialen Wanderns allmählich an Bedeutung. Wer sozial wandern wollte, nahm das für eine selbstverständliche Praxis. Die Intensität, mit der vor Ort sozial gewandert wurde, folgte einem flexibel zu denkenden Nord-Süd-Gefälle – geringer ausgeprägt im Süden. Ein Spezialfall war die aktive Rolle der Naturfreundejugend etwa bei den Ostermärschen, wo das politische und das Wanderformat ineinandergriffen. Zudem wurde die Wanderkomponente Teil so mancher Umweltaktionen.
Ende der 1970er-Jahre beschäftigte sich der spätere stellvertretende Bundesvorsitzende Ernst Rohm wieder intensiver mit dem Konzept und lenkte den Blick dabei auf die Ausbildung. Denn „es kann einer sein Leben lang wandern, ohne zu einer sozialistischen Überzeugung zu kommen“, so Rohm. Damit das Wandern politische Erkenntnisse produziere, brauche es einen gesellschaftlich geschulten Blick – und dafür wiederum speziell ausgebildete Wanderführer*innen, die sich mit den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sowie sozialen Spannungen in den durchwanderten Landschaften beschäftigten. Rohm empfahl: „Wir sollten die Schulung in dieser Richtung erweitern.“
In den 1980er-Jahren wurde die Debatte wieder leiser. Sozial zu wandern wurde eher intuitive Absichtserklärung als konkrete Vorstellung. Den Diskurs dominierten stattdessen Konzepte wie „Erlebniswandern“, Veranstaltungsreihen wie „gemeinsam ontour“ oder ökotouristische Kampagnen wie die Natura Trails. Als Praxis vor Ort blieb das Konzept lebendig in Aktionsformen wie den Sozialen Pedalen – sozialen Radwanderungen –, Städtereisen mit sozialpolitischem Hintergrund und sozial fokussierten Fototouren. Heute wird das Soziale Wandern in Touren und Freizeiten zwar vielfach praktiziert, aber nur noch selten auch ausdrücklich so genannt.
Die Naturfreundejugend macht das Konzept jugendgerecht
Einen neuen Ansatz versuchte jüngst die Naturfreundejugend Deutschlands. In einer sogenannten „beweg!gründe“-Broschüre entwickelte sie Kriterien für jugendgerechtes Soziales Wandern: Das Thema der Wanderung müsse möglichst vor Ort direkt erlebbar und Natur dürfe nicht nur Kulisse sein, die behandelten Themen sollten an das persönliche Leben der Teilnehmenden anknüpfen, die für die Wanderung gewählten Methoden zudem zum Austausch anregen und Denkanstöße geben und es müsse ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ebenen des Sozialen Wanderns bestehen.
Trotzdem ist die innerverbandliche Zukunft des Konzeptes offen. Zwar scheint bei den NaturFreunden wieder das Bewusstsein zu wachsen, dass man als Wanderverband entstanden und es sowohl in der Innen- als auch der Außenwahrnehmung ganz wesentlich geblieben ist. Zudem ist das Wandern mit anderen Aktivitäten leicht kombinierbar.
Wie Soziales Wandern heute aussehen kann
Allerdings stellt sich angesichts des neuen Popularitätsschubs des Wanderns die Frage, inwieweit neue Wanderkonzepte das Soziale Wandern überformen oder verdrängen. Der Publizist Ulrich Grober, der in der NATURFREUNDiN 2–17 ein „Plädoyer für das Neue Wandern“ führte, bringt es so auf den Punkt: „Wandern hat mit Freiheit zu tun, aber auch mit Gleichheit. Es ist ein Element des guten Lebens, zu dem Menschen aus allen Schichten unabhängig von ihrer Kaufkraft gleichen Zugang haben sollten. Diese ‚demokratische‘ Dimension hat das Wandern in der Vergangenheit immer gehabt. Sie ist unbedingt zu bewahren.“ Natürlich prägen diese Elemente auch das Soziale Wandern. Doch die Komponenten „gesellschaftliches Schauen“ und gemeinschaftliche Aktion werden beim Neuen Wandern nicht betont.
Klar sein muss: Rein soziologisch motiviertes (Freizeit-) Wandern ohne die Effekte von Ruhe, Erholung und auch Kontemplation wäre ebenso eine Verkürzung des naturfreundlichen Wanderns wie der weitgehende Ausschluss sozialer, politischer, ökonomischer und ökologischer Faktoren. Nicht jede Tour kann und soll ein Seminar sein. Insofern ergänzen sich unterschiedliche Wanderzugänge.
Es steht also an, das „Neue“ und das „Soziale“ Wandern in ganz praktischer Weise zusammenzuführen und um ökologische Themensetzungen zu ergänzen. Das Soziale Wandern muss nicht nur im kulturellen Gedächtnis der NaturFreunde eine wieder größere Rolle spielen, es muss auch stärker Teil ihres aktuellen Selbstverständnisses sein.
Dann trifft sich die alte Idee des Sozialen Wanderns mit der großen didaktischen wie politischen Aufgabe, eine grundlegende sozialökologische Transformation anzustoßen – als ganz praktisches Alltagsprojekt.
Klaus-Dieter Gross