Was sagte die Börse noch zu Syrien?

Die kritische Öffentlichkeit verfällt zur Berichterstattung des Augenblicks

Michael Müller, Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands, warnt vor der Entpolitisierung von Medien und Gesellschaft: „Das demokratische Prinzip ist in Gefahr!“

Wer die Demokratie im positiven Sinne gestalten will, muss Zusammenhänge verstehen und rechtzeitig handeln. Politisch sein heißt Zusammenhänge verstehen. Doch das geschieht immer weniger, unsere Zeit wird geradezu systematisch entpolitisiert. Auch weil sich ein „Expertentum“ breit gemacht hat, welches der Öffentlichkeit einen Tunnelblick vermittelt.

Die Großmeister der Entpolitisierung erzählen Anekdoten
Im Fernsehen zum Beispiel interviewen Journalisten immer häufiger ihre Kollegen. Um besonders modern zu wirken, nennen sie sich beim Vornamen. Manche Moderatoren nehmen sich wichtiger als die Sache, drohen zu Großmeistern der Entpolitisierung zu werden. Doch auch die Interviewten aus der Politik machen mit, grüßen nicht mehr Zuschauer, sondern nur den Interviewer. Oder Berichte werden auf Kuriositäten ausgerichtet, die ihnen eine besondere Note verleihen sollen. Lachen bitte, aber wenig aussagen. Diese medial transportierte Politik der Anekdoten erklärt nichts.

„Nervöse“ Märkte haben keine demokratische Legitimation
Besonders problematisch ist, was uns die selbstbewussten Damen und Herren vom Frankfurter Parkett erklären. Oder auch pervers: Eine der häufigsten Fragen angesichts der dramatischen Lage in Syrien ist zum Beispiel, wie die Börse reagiert. In der ARD wurde sogar die – angeblich – alte Börsenweisheit angesprochen, „kaufen, wenn es knallt“. Wie bitte? Wirtschaftsfragen haben sich von der politischen Ökonomie entfernt, werden reduziert auf das, was die „nervösen“ Märkte von der Politik erwarten. Doch dahinter stehen die Interessen von Fondsmanagern, spekulativen Computerprogrammen und Anlegern. Das ökonomische Einheitsdenken ist ohne jede demokratische Legitimation.

Hintergründe laufen im Nachtprogramm
Um politisch aufzuklären, müssten Ursachen, Zusammenhänge und Folgen der Finanz- und Eurokrise genauso erklärt werden wie die des Klimawandels, der Ressourcenverknappung oder auch der sozialen Ungleichheiten. Das wird auf Sendungen in Phoenix, Arte oder im Nachtprogramm verlagert. Ansonsten werden Informationen enthistorisiert, zu Informationen des Augenblicks gemacht. Längst leben wir in einer Zeit des permanenten Jetzt. Nur noch das Ereignis zählt, Zusammenhänge und Deutungen werden kaum noch verstanden. Allerdings kann man mit einem selektiven Faktenwissen den Ereignissen nur hinterherlaufen. Weil es diese Entpolitisierung gibt, ist zum Beispiel auch Frau Merkels Nicht-Politik erfolgreich.

Auch der Mann im Mond sieht die Zusammenhänge nicht mehr
Permanente Ausdifferenzierung und immer weitergehende Arbeitsteilung sind entscheidende Treiber in der Entwicklung moderner Gesellschaften. Die Realität wird aufgespalten, zerlegt und segmentiert. Zwar können die Menschen heute zum Mond fliegen, die Geheimnisse des Gehirns erforschen oder immer leistungsfähigere Computer bauen. Die Zusammenhänge jedoch verstehen sie immer weniger.

Politik und Medien müssen raus aus dem Windkanal schnelllebiger Umfragen
Natürlich wird es mit der wachsenden Komplexität der Gesellschaft immer schwieriger, den Koordinations- und Steuerungsbedarf zu erfüllen. Aber das ist die Aufgabe der Politik, dafür ist sie da. Doch die Orientierungsprobleme nehmen zu. Es gibt immer mehr Experten für Einzelfragen, aber immer weniger Gesamt- und Übersicht. Dieser Zustand spiegelt sich auch in der Wissenschaft, wo es immer mehr Bindestrich-Wissenschaftler gibt.

Eine kritische Öffentlichkeit darf sich aber nicht reduzieren lassen auf Meinungen im Windkanal schnelllebiger Umfragen, auf singuläre Fragen und schon gar nicht auf gierige Erwartungen der Märkte. Sonst gerät ein Grundprinzip der Demokratie in Gefahr: eine kritische Öffentlichkeit, die Zusammenhänge versteht und rechtzeitig handelt.
----------------------------------------------------------------------------------------------------------
4.005 Zeichen mit Leerzeichen – freigegeben
Rückfragen bitte an
NaturFreunde Deutschlands
Michael Müller
Bundesvorsitzender
(0172) 246 21 25
mueller@naturfreunde.de
www.presse.naturfreunde.de