NaturFreunde-Transformations-Antrag an den SPD-Parteitag

Eine sozialökologische Transformation – Standortbestimmung der Sozialdemokratie im Zeitalter des Anthropozäns

Lesen und kommentieren Sie hier den Antrag der NaturFreunde Deutschlands an den SPD-Parteitag in Leipzig (14.-16.11.2013), der angenommen an den Parteivorstand überwiesen wurde.

Die NaturFreunde Deutschlands bitten den Bundesparteitag, dass die SPD in Zusammenarbeit mit befreundeten Organisationen einen breiten, offenen und öffentlichen Diskurs beginnt über

  • die Lage unseres Landes und der EU sowie über die globalen Veränderungen und Herausforderungen;
  • die Verwirklichung von mehr Demokratie und von sozialer und ökologischer Gerechtigkeit;
  • die Beendigung der Ökonomie der Kurzfristigkeit und die Konkretisierung der Leitidee der Nachhaltigkeit in einer solidarischen Wirtschaftsordnung;
  • die sozialökologische Gestaltung der Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Globalisierung der Märkte, die Digitalisierung der Welt und die ökologischen Grenzen des Wachstums.

Es geht darum, wie wir heute und morgen in Wohlstand und Sicherheit leben können, nachdem das “alte Modell”, der keynesianische Wohlfahrtsstaat, an Grenzen geraten ist. Politisch sein heißt, die Zusammenhänge verstehen und nicht nur das scheinbar Machbare zu verfolgen, sondern zuerst das Notwendige zu sehen, um es machbar zu machen. Allein die Rückkehr zu einer utopischen Denkweise schafft schon mehr Klarheit, um was es geht: Die Schaffung sozialer und ökologischer Voraussetzungen menschlicher Solidarität. Insbesondere Politik, Wissenschaft und Forschung müssen auf die sozialökologische Transformation ausgerichtet werden:

  • Überwindung der Wachstumsabhängigkeit der Politik. Politische Gestaltung kann nicht durch die Hoffnung auf Wachstum ersetzt werden;
  • mehr Demokratie in allen Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft;
  • Regulierung des Finanzsektors, damit Geld dient und nicht herrscht;
  • eine Ökonomie des Vermeidens sozialer und ökologischer Folgeschäden des wirtschaftlich-technischen Wachstums und eine Kultur des Bewahrens;
  • Festlegung eines Indikatorensystems, das wirtschaftliche, soziale und ökologische Entwicklungen als Einheit sieht und das BIP ablöst;
  • eine absolute Entkoppelung des Energie- und Ressourcenverbrauchs vom wirtschaftlichen Wachstum durch ökonomische Rahmensetzungen, technische Innovationen und kulturelle Aufklärung;
  • ein Programm Arbeit und Umwelt, das die natürliche Mitwelt saniert, gute Arbeit schafft und durch eine Zukunftsanleihe in Deutschland wie der EU finanziert wird;
  • ein postfossiles Zeitalter, das nicht länger die knappen Rohstoffe ausbeutet und die natürlichen Senken überlastet. Dazu gehören nicht nur der konsequente Umbau in die Solarwirtschaft, sondern auch eine Effizienzrevolution bei der Nutzung von Energie und Rohstoffen und eine Kreislaufwirtschaft;
  • eine wirkliche Energiewende durch die Zusammenführung von Erneuerbaren Energien, einer Effizienzsteigerung und gezieltes Einsparen in einem möglichst dezentralen System verbrauchsnaher Dienstleistungen;
  • bis Mitte des Jahrhunderts eine Reduktion der klimaschädlichen Kohlendioxidemissionen um 90 Prozent. Im Strombereich muss dann eine solare 2.000-Watt-Gesellschaft verwirklicht werden;
  • eine solidarische Neuordnung der Mobilität, die vor allem die öffentlichen Angebote verbessert und ihre nichtmotorisierten Formen stärker fördert;
  • Senkung der Rüstungsausgaben für den Aufbau eines weltweiten Systems “grüner Sicherheit”;
  • eine europäische Union, die nicht nur Banken rettet, sondern die Leitidee der Nachhaltigkeit verwirklicht;
  • eine Reform der Organisationen der Vereinten Nationen, um in der globalisierten Welt starke internationale Organisationen für eine nachhaltige Entwicklung zu haben.

Wir setzen uns für eine Stärkung der Politik ein. Sie braucht eine große Botschaft für einen breiten und offenen Diskurs in unserer Gesellschaft, wie die sozialökologische Transformation gestaltet werden kann. An diesem Diskurs sollen sich alle Bürgerinnen und Bürger beteiligen können. Er hat das Ziel, die politische und kulturelle Hegemonie für eine Politik der sozialökologischen Gestaltung zu gewinnen.

Die folgenden Ausführungen sind ein Beitrag der NaturFreunde Deutschlands zur Standortbestimmung der Politik.

Auf dem Bundesparteitag der SPD 2009 in Dresden hat die SPD den Anspruch erhoben, die “kulturelle Hegemonie” zurückzugewinnen. Denn von Antonio Gramsci wissen wir: Alles hat ein Innen und ein Außen. Die Macht der Herrschenden ist auch die Ohnmacht der Beherrschten, ihre Interessen und Ziele durchzusetzen.

Heute wird die Demokratie geschwächt, Colin Crouch spricht von “Postdemokratie”, denn die Politik wird von starken Wirtschaftsinteressen getrieben, vor allem von kurzfristigen Erwartungen der Märkte. Die Banken haben die Gesellschaften zwar nicht auf Gedeih, wohl aber auf Verderb in Geiselhaft genommen. Der wirtschaftliche und gesellschaftliche Umbruch, der Mitte der 1970er- Jahre mit der Aufkündigung der Weltwirtschaftsordnung von Bretton Woods und dem Ende der außergewöhnlich hohen Wachstumsphase begann, wurde entweder in seiner Tragweite nicht hinreichend verstanden oder für eine neoliberale Kurswende genutzt. Es begann eine Transformation, wie Karl Polanyi die “Entbettung” der Ökonomie aus gesellschaftlichen Zusammenhängen beschrieben hat. Doch statt die Transformation sozialökologisch zu gestalten, kam es in den letzten Jahren, gefördert durch eine neoliberale Politik, mit der Globalisierung der Märkte und der Digitalisierung der Welt zum Finanzkapitalismus.

Die falsche Weichenstellung wurde begründet mit der irrigen Hoffnung, so ein höheres wirtschaftliches Wachstum zu erreichen. Doch es geht um immense Veränderungen, die nicht mit kleinen Schritten zu erreichen sind und die aus Angst vor den Widerständen immer kleiner werden. Doch Politik machen heißt Verantwortung übernehmen, mutig sein und Prozesse gestalten, sozial und ökologisch. Dazu sind wir nicht in der Lage, solange das Unpolitische das Politische verdrängt. Zuerst müssen wir die Zusammenhänge verstehen, Ursachen erkennen und tiefgreifende Reformen durchsetzen.

Denn auch ein Zurück zum keynesianischen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit kann es nicht geben:

  • das Wachstum der Nachkriegsjahrzehnte war außergewöhnlich und lässt sich nicht wiederholen;
  • die Kultur der sozialen Marktwirtschaft, deren Grundlagen auch ein starker öffentlicher Sektor und die Steuerungsfähigkeit des Nationalstaates waren, ist erodiert;
  • Klimawandel, Artenzerstörung und Peak-Oil zeigen: die ökologischen Grenzen des Wachstums sind erreicht.

Dies sind nicht nur globale Herausforderungen, sondern sie berühren auch unser Land. Die extremen Hochwasser von 2002 und 2013 waren in ihren Ausmaßen und in ihrer Häufigkeit bereits eine Folge der menschlichen Eingriffe in den Treibhauseffekt auch bei uns. Durch den Klimawandel wird es auch mehr Hitzetote und Gesundheitsschäden geben, 2003 waren es in Westeuropa über 35.000 Tote. Nicolas Stern und das Umweltbundesamt haben in Studien deutlich gemacht, welche Kosten auf uns zukommen, wenn wir nicht heute in eine sozialökologische Transformation investieren, sondern das Notwendige weiter verdrängen.

Mehr noch: Heute haben wir es nicht nur mit einzelnen Krisen zu tun, sondern erleben einen Epochenbruch. Es kommen drei große Herausforderungen zusammen:

  • die Gefahren des Anthropozäns, weil der Mensch seit der industriellen und urbanen Revolution heute zum stärksten Treiber geoökologischer Prozesse aufgestiegen ist, was uns eine neue Dimension von Verantwortung abverlangt;
  • die weitreichende Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Markt und Demokratie, weil der Nationalstaat durch die Globalisierung ausgehebelt wurde, so dass er an politischer Steuerungskraft verloren hat;
  • den globalen Finanzkapitalismus, weil es durch die Entfesselung der Ökonomie zu einer radikalen Marktgesellschaft gekommen ist, die sozial spaltet und die Zukunft verspielt.

Dieser Epochenbruch erfordert nicht weniger, sondern mehr politische Gestaltung. Er stellt in aller Schärfe die Frage: Wie wird Fortschritt möglich? Doch die Politik reagierte auf die großen Herausforderungen überwiegend mit kurzfristigen Reflexen, mit Deregulierung, Liberalisierung und einer Ausweitung der Geldschöpfung.

Damit konnten – wenn überhaupt – nur kurzfristig Verbesserungen erreicht werden. Denn es geht um mehr: das Alte, der Glaube an die moderne Gesellschaft als quasi natürliches Ereignis des technischen Fortschritts und wirtschaftlichen Wachstums, ist vorbei. Wir leben in einer radikal veränderten Welt. Sie braucht eine Theorie, die weder die Verhältnisse kritiklos hinnimmt, noch simple Heilslehren verkündet. Sie muss den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Fragen aufzeigen, vorherrschende Machtinteressen deutlich machen und die Transformation politisch gestalten.

Wir müssen über die Ausgestaltung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung unter den Bedingungen globaler Märkte, weltweiter Vernetzung und Digitalisierung und sozialer und ökologischer Grenzen des Wachstums neu bestimmen. Diese Suche nach Orientierung darf nicht überforderten Talkshows oder selbstgefälligen Leitkommentaren überlassen werden. Sie verhindern den Diskurs, denn sie reden meist so, wie es Max Horkheimer und Theodor Adorno beschrieben haben: “Sie meinen, Theorie habe so wenig nötig im Denken Anwendung zu finden, dass sie es sich ersparen sollen.”

Nicht weniger, sondern mehr Politik ist notwendig. Die wachsende Distanz zu den Parteien hat auch viel damit zu tun, dass die SPD, die eine Schlüsselrolle im politischen Diskurs unseres Landes einnimmt, die Öffentlichkeit zu wenig politisiert. Die NaturFreunde fordern von den Organisationen, die ihre Wurzeln in den sozialen Bewegungen haben: mehr Politik und Demokratie wagen. Dabei ist die Bereitschaft der Menschen, sich für das öffentliche Wohl zu engagieren, nicht geringer geworden, aber sie braucht eine gemeinsame Plattform. Auch bei der Ablehnung der Atomkraft, den Protesten gegen Stuttgart 21 oder der Kritik an den Euro- und Verschuldungsorgien geht es im Kern um die berechtigte Kritik an dem Irrglauben, dass Wachstum alle Probleme lösen kann.

Ohne einen großen Diskurs bleiben die Bürgerinnen und Bürger in wachsender Distanz zu den Parteien, die sich entweder weiter aufsplittern oder im Windkanal kurzfristiger Wählererwartungen bleiben, in dem das Profil der Parteien scheinbar oder tatsächlich immer gleicher wird. Damit gerät das demokratische Prinzip in Gefahr. Die kritische Theorie findet kaum noch statt. Dort, wo sich ihre Begriffe doch durchsetzen können, werden sie als abstrakte Randthemen behandelt – trotz der unveränderten Brisanz der Finanzkrise, der wachsenden sozialen Ungleichheit und der globalen Naturzerstörung, trotz unseres besseren Wissens über die Gefahren und trotz steigender Sensibilität für die Ungerechtigkeiten. Kräfte werden nicht gebündelt.

Willy Brandts Vermächtnis heißt: Nichts kommt von selbst, jede Zeit braucht ihre Antwort. Deshalb fordern wir auch von der SPD, einen breiten politischen Diskurs über die Krisen und Erschütterungen unserer Zeit zu führen. Die Politik der Bundesregierung ist nicht “alternativlos”, aber die Konzepte für eine sozialökologische Transformation müssen konkretisiert, zusammengefügt und zugespitzt werden. Politik heißt, Zusammenhänge zu verstehen, die Ursachen der Fehlentwicklung zu beseitigen und Prozesse gestalten. Die sozialökologische Transformation ist die große Botschaft unserer Zeit. Andernfalls wird der Demokratie immer weniger zugetraut.

Die Herausforderungen des Anthropozäns

Das vorherrschende Verständnis von Natur, das die Entwicklung der modernen Zivilisation geprägt hat, ist überholt. Seit der industriellen und urbanen Revolution formt der Mensch die Natur in einer Weise, dass er zur stärksten Macht in der Veränderung geoökologischer Prozesse aufgestiegen ist. Der Nobelpreisträger für Chemie von 1995, Paul Crutzen, der von 1980 bis 2000 Direktor des Max-Planck-Instituts für Chemie in Mainz war, plädiert deshalb dafür, unsere Erdepoche nicht länger Holozän – gemäßigte Warmzeit – zu nennen, sondern Anthropozän – Menschenzeit. Das geht weit über eine begriffliche Bestimmung hinaus.

Das Holozän der letzten 12.000 Jahre, in denen sich die menschliche Zivilisation entwickeln konnte, ist “durch das menschlich gemachte Neue” endgültig vorbei – und damit die Erde, so wie wir sie kennen. Crutzen nennt das: Geology of Mankind – Geologie der Menschheit: “Die Menschheit wird auf Jahrtausende hinaus ein maßgeblicher ökologischer Faktor” sein, der die Kapazitäten des Erdsystems untergräbt, sich selbst zu regulieren.

In der nächsten Zeit will die Geologische Gesellschaft von London, die älteste ihrer Art, über diesen Vorschlag entscheiden. Ihre renommierte Stratigraphische Kommission legte bereits überzeugende Beweise für die Richtigkeit der Aussage von Crutzen vor. 2009 erforschte das internationale Wissenschaftlerteam von Johan Rockström und Will Steffen, dem auch Paul Crutzen und Joachim Schellnhuber, Präsident des Potsdamer Instituts für Klimafolgenforschung, angehörte, die Planetary Boundaries – Umweltgrenzen. Es kommt zu dem Ergebnis, dass sie in drei der neun untersuchten Bereiche bereits überschritten sind: Klimawandel, Zerstörung der Biodiversität und Stickstoffkreislauf.

Die Tropen- und auch viele boreale Wälder verschwinden, das Aussterben der Arten beschleunigt sich. Über die Hälfte des verfügbaren Süßwassers wird von Menschen genutzt. In küstennahen Zonen entnimmt die Fischerei 35 Prozent der primären Produktion, viele Fischarten sind ausgestorben oder kämpfen um ihr Überleben. Die Stickstoffentnahme aus der Atmosphäre hat sich gegenüber der vorindustriellen Zeit um 347 Prozent erhöht. Weltweit beschleunigt sich der Verlust an Ökosystemleistungen und biologischer Vielfalt. Die Nutzung von Süßwasser hat sich im letzten Jahrhundert nahezu verachtfacht, Wasserknappheit bedroht ein Drittel der Menschheit.

Durch Bodenerosion geht fruchtbarer Boden verloren. Die Folgen schlagen zurück und werden, wenn es nicht zu einer sozialökologischen Transformation kommt, die Lebensqualität und Wirtschaftskraft künftiger Generationen massiv verschlechtern.
Die Überlastung und Ausbeutung des Naturkapitals geht aber unvermindert weiter. Im Jahr 2000 betrug die globale Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen zwischen 145 und 180 Milliarden Tonnen. Auf fossile Brennstoffe, Metalle und andere Minerale sowie auf Biomasse entfielen rd. 80 Milliarden Tonnen, auf den Erdaushub 40 bis 50 Milliarden Tonnen und auf die Erosion durch landwirtschaftliche Aktivitäten 25 bis 50 Milliarden Tonnen.

In der Europäischen Union lag zur Jahrtausendwende der Materialaufwand pro Kopf bei 44 Tonnen. Wäre das der Wert für die neun Milliarden Menschen, die im Jahr 2050 auf der Erde leben werden, läge die Gesamtnutzung bei rd. 400 Milliarden Tonnen. In den USA kam der Aufwand im Jahr 2000 auf rund 74 Tonnen pro Kopf, für alle Weltbürger wäre diese addierte Menge zur Mitte unseres Jahrhunderts rd. 660 Milliarden Tonnen.

Die expansive Nutzung der Natur hat den reichen Nationen enormen Wohlstand gebracht, aber er übersteigt die Tragfähigkeit der Erde. Deshalb stellte im Auftrag des Club of Rome der italienische Chemiker Ugo Bardi fest, dass die Ausbeutung der Ressourcen die Welt in einen anderen Planeten verwandelt habe. Eine Fortsetzung der Ressourcenerschöpfung und Zerstörung der Ökosysteme bringe die Menschheit in eine nahezu aussichtslose Lage. Das belegt der Ecological Footprint – ökologische Fußabdruck. Diese Berechnungsgröße wurde 1994 entwickelt.

Der Fußabdruck erfasst die Fläche, die für den heutigen Lebensstil und Lebensstandard eines Menschen (für Produktion, Konsum, Energie- und Materialaufwand, Mobilität sowie für Emissionen und Müll) gebraucht wird. Er zeigt auf, wie sehr die Erde und ihre biologischen Kapazitäten belastet sind – z. B. Flächen, die für die Produktion einer Kleidung oder von Nahrungsmitteln gebraucht werden, auch für die Bereitstellung von Energie und Ressourcen oder zur Entsorgung oder zum Recycling der Reststoffe und zur Bindung von Kohlendioxid. Der globale ökologische Fußabdruck ist demnach 2,7-mal höher als die Erde verkraften kann. Lebten alle Menschen wie im Wüstenstaat Katar, bräuchten sie sogar fast zwölf Erden.

Doch statt zu einem solidarischen und nachhaltigen Verhältnis zur Natur zu kommen, wird das Naturkapital ökonomisiert und kommerzialisiert. Die Menschen holzen unverändert Wälder ab, versetzen Berge, versauern und entfischen die Meere, heizen die Erdatmosphäre auf, greifen in den natürlichen Stoffwechsel ein und produzieren Unmengen an Abfall. Sie schaffen eine Agroindustrie, gentechnische Produkte und eine synthetische Biologie. Der heutige Kapitalismus wäre ohne die Ausbeutung der fossilen Rohstoffe nicht möglich geworden, er ist nicht fähig, lebensnotwendige Grenzen zu beachten.

Kurz: Ökologische Grenzen des Wachstums sind erreicht und werden durch die nachholende Industrialisierung der großen Schwellenländer und durch das anhaltende Bevölkerungswachstum weiter überschritten. Dabei sind die großen sozialen Ungleichheiten der Welt noch lange nicht beseitigt, was allein schon einen enormen Zuwachs an Energie und Ressourcen erfordert. Notwendig ist eine Welt, die weder Mangel noch Übermaß kennt. Deshalb muss es zu mehr Verteilungsgerechtigkeit im Bestand kommen. Doch bisher blieb die Mahnung Mahatma Gandhis ungehört: “Die Erde hat genug für jedermanns Bedürfnisse, aber nicht für jedermanns Gier.”

Soziale und ökologische Gerechtigkeit als Einheit verstehen

Im Anthropozän, im Menschenzeitalter, müssen soziale und ökologische Gerechtigkeit untrennbar miteinander verbunden sein. Andernfalls drohen vor allem vier Bereiche zu einem Ground Zero der Moderne zu werden:

  1. der vom Menschen verursachte Klimawandel. Der erste Kampf ist mit dem Scheitern des unzureichenden Kyoto-Protokolls bereits verloren. Das Ziel, nicht mehr als zwei Grad Celsius zuzulassen, wird durch das Versagen der Weltgemeinschaft verfehlt werden. Bereits dieser Temperaturanstieg opfert einen Teil der Erde dem Klimawandel, vor allem die ärmsten Regionen in ökologisch sensiblen Zonen;
  2. mit dem Peak-Oil. Nach Angaben der Internationalen Energieagentur (IEA) wurde der Höhepunkt der Erdölförderung im Jahr 2008 erreicht. Seitdem kam es zu keiner Steigerung mehr, die Förderung verharrt auf einem Plateau, obwohl China und Indien mit 2,5 Milliarden Menschen erst am Beginn der Massenmotorisierung stehen. Erdöl ist die Grundlage der heutigen Mobilität und Arbeitsteilung. Selbst das umwelt- und naturschädliche Fracking, das als neue Energieautonomie hochgejubelt wird, kann bestenfalls eine kurze Zeit Ersatz schaffen. Mit dem Peak-Oil drohen Ressourcenkriege um die Verteilung des knappen Rohstoffs, Mobilität kann zum Luxus werden;
  3. die Welternährung. Die UN-Gremien befürchten, dass bis zum Jahr 2030 in 30 zumeist sehr armen Ländern der Erde ein Rückgang der Nahrungsmittelproduktion um rund 25 Prozent zu erwarten ist. Das bedeutet eine Zunahme von Hunger und Elend. Zunehmend wird mit knappen Gütern, zu denen auch landwirtschaftliche Flächen gehören, spekuliert und damit mit der Armut vieler Menschen;
  4. durch die Verslumung. Für das Jahr 2030 erwartet der UN-Habitat-Bericht, dass rund zwei Milliarden Menschen in Slums leben werden. Das bedeutet schier unlösbare Energie- und Ernährungskrisen ebenso wie massive Ver- und Entsorgungsprobleme. 2050 werden rund neun Milliarden Menschen auf der Erde leben, überwiegend in großen Städten, während die Landbevölkerung abnehmen wird. Viele Metropolen sind heute schon faktisch unregierbar.

Das Menschenzeitalter erfordert neue Denkweisen, die keine Abkehr von der sozialen Frage bedeuten, sondern ihr sogar neue Aktualität geben. Soziale und ökologische Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen, damit der Mensch nicht planetarischer Eroberer, sondern ein aufgeklärter Erdbewohner ist, zugleich Gärtner und Gestalter. Die Menschheit hat keine Zukunft, wenn sie auf den bisherigen Pfaden weitermacht, die unsere Zivilisation in die Krise geführt haben. Die klassische Umweltpolitik, geprägt von reaktiver Sanierung der Folgen von Hyper-Konsum und industrieller Landnahme, ist keine Antwort, die nachhaltig ist. Auch wenn wir einzelne Verbesserungen und Fortschritte im Umwelt- und Naturschutz durchaus anerkennen.

Die Namensänderung unserer Erdepoche in Anthropozän ist ein starkes Signal für die menschliche Verantwortung, die Erde zu gestalten statt zu zerstören. Das Menschenzeitalter stellt unmittelbar die Frage: Welches Weltbild, welches Verständnis von Menschen und Natur, welche Wirtschaftsordnung sind erforderlich, um dauerhaft überleben zu können?

Unsere Antwort darauf ist die sozialökologische Transformation, die ohne starke Träger in Politik und Zivilgesellschaft nicht zu erreichen ist. Sie braucht die Bündelung für den Umbau, neben starken Kräften in der Gesellschaft auch politische Parteien, die entweder von der sozialen Frage geprägt sind und sich den ökologischen Herausforderungen öffnen oder die ökologisch ausgerichtet sind und soziale Reformen gleichberechtigt sehen. Beides muss zusammenkommen. Insofern diskutieren wir nicht über formale Bündnisse und Koalitionen, sondern über inhaltliche Allianzen, aus denen starke Bewegungen werden können.

Die NaturFreunde plädieren für eine breite Verständigung gesellschaftlicher und politischer Kräfte für die Gestaltung der sozialen und natürlichen Mitwelt. Die Ökonomisierung der Natur kann die Probleme nicht lösen. Das Anthropozän stellt vielmehr die Systemfrage in Wirtschaft und Gesellschaft.

Eine sozialökologische Transformation

Im Bericht der Vereinten Nationen über die menschliche Entwicklung heißt es: “In der Geschichte der Menschheit gibt es keine Situation, die sich mit der Dringlichkeit der mit dem Klimawandel zusammenhängenden Problemen vergleichen ließe.” Finanzgier, Wetterextreme und die Erschöpfung der fossilen Ressourcen können sich zusammen mit sozialer Ungleichheit, der nachholenden Industrialisierung und weiteren 1,5 Milliarden Menschen zu einer Herausforderung verbinden, die jenseits unserer Vorstellungskraft liegt.

Im Hamburger Programm der SPD steht: Das 21. Jahrhundert wird entweder ein Jahrhundert erbitterter Verteilungskämpfe und neuer Gewalt oder es wird ein Jahrhundert der Nachhaltigkeit, das wirtschaftliche Innovationen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Verträglichkeit verbindet.

Das ist auch die Position der NaturFreunde Deutschlands. Sie darf nicht folgenlos bleiben. Andernfalls drohen

  • entweder eine Öko-Diktatur, in der zur Abwehr größter Gefahren einschneidende Anpassungen per Zwang “von oben” durchgesetzt werden müssen,
  • oder ein Öko-Imperialismus, der die Folgen aus der Überlastung der natürlichen Senken und der Ausplünderung der natürlichen Rohstoffe den armen Weltregionen aufbürdet. Wir sehen mit Sorge, dass die Sicherung des Zugangs zu strategischen Rohstoffquellen, insbesondere zu Öl, bei den Militärs einen zentralen Stellenwert hat.

Die Bewältigung der Herausforderungen wird auch nicht möglich, wenn es zu einer totalen Ökonomisierung – und damit auch Kommerzialisierung – des Naturkapitals kommt. Stattdessen brauchen wir die sozialökologische Transformation, die die Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung, von Energiekrisen, Klimaänderungen und Artenzerstörung mit einer ganzheitlichen Vision des menschlichen Fortschritts verbindet. Unser Land sollte hierbei ein Pionier sein.

Es ist keine Politik, sich wirtschaftlichen Zwängen anzupassen. Es reicht auch nicht aus, Finanzkapitalismus und Neoliberalismus abzulehnen, aber keine eigene Antwort zu geben. Ohne mehr Demokratie, ohne eine grundlegend reformierte Wirtschafts- und Wettbewerbsordnung und ohne ein starkes, nachhaltiges Europa wird es kein gutes und gerechtes Leben geben.

Die NaturFreunde wurden 1895 in Wien gegründet. Zusammen mit Gewerkschaften, Linksparteien und Arbeiterwohlfahrt gehören wir zum “Kleeblatt” der Arbeiterbewegung. Zu den Gründern der NaturFreunde in Österreich gehörte der Sozialdemokrat Karl Renner, der später Staatspräsident wurde. Auch Heinz Fischer, das heutige Staatsoberhaupt Österreichs, war lange Jahre Vorsitzender der NaturFreunde.

1905 kam es zu ersten Gründungen in Deutschland. In unserem Land war Willy Brandt der bekannteste NaturFreund. Parteivorsitzende der SPD, Ministerpräsidenten, Minister unterschiedlicher Parteien und Gewerkschaftsvorsitzende waren oder sind Mitglieder der NaturFreunde, ebenso zahlreiche Repräsentanten regionaler und lokaler Gliederungen von Gewerkschaften und Parteien. In Eigenleistung und genossenschaftlicher Selbsthilfe bauten die NaturFreunde Bildungs-, Freizeit- und Erholungshäuser. Wir sind ein Stück aktiver Solidarität, Förderer des Breitensports, ein kultureller Kristallisationspunkt und mit unserem Schwerpunkt Natur- und Umweltschutz von Anfang an “grüne Rote”.

Der langjährige österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky beschrieb unsere Arbeit so: “Die Naturfreunde haben eine Pionierleistung für die Arbeiterbewegung vollbracht, als sie um die Jahrhundertwende die arbeitenden Menschen aus Fabriketagen und Wohnungselend herausführten in die freie Natur – nicht aus romantischer Schwärmerei, sondern um denen, denen das Leben so viel schuldig blieb, ein bisschen mehr Lebensqualität zu bieten und zudem, um sie physisch zu stärken in ihrem Kampf um eine gerechtere Lebensordnung. In unserer Zeit ist die Natur gefährdet. Ihre Pflege ist zur bedeutsamen Aufgabe der Politik geworden. Zu dieser Wiederbesinnung auf die Natur haben die Naturfreunde wesentlich beigetragen und damit auch zur Überlebensfrage der Menschheit.”

1933 wurden die NaturFreunde in Deutschland von den Nazis verboten. Viele standen im aktiven Widerstandskampf gegen Hitler, kamen in Konzentrationslager und verloren ihr Leben. In der dunklen Zeit des Nationalsozialismus leisteten wir vor allem gefährliche Kurierdienste für Widerstandsgruppen im In- und Ausland, wobei sich die “roten Bergsteiger” in Sachsen besonders hervortaten. Nach 1945 wurde in der DDR unsere Organisation nicht zugelassen und die Naturfreundehäuser zum zweiten Mal enteignet.

In der Nachkriegszeit setzten sich die NaturFreunde in Westdeutschland nicht nur für einen sanften Tourismus, die Kultur- und Heimatpflege und Friedens- und Abrüstungspolitik (Ostermärsche) ein, sondern auch schon früh für mehr Naturschutz und gegen die Nutzung der Atomkraft. Zu unseren Grundüberzeugungen gehört, dass die soziale Emanzipation der Menschen und der Schutz der Natur untrennbar zusammengehören. Bereits 1961 demonstrierten wir in Stuttgart unter dem Motto “Schutz dem Menschen – Schutz der Natur”. Auf unserem Bundeskongress 1963 hieß das Leitthema “Natur in Gefahr, Mensch in Gefahr”. Hauptredner war Robert Jungk. Weit früher als alle anderen Organisationen forderten wir schon damals den Ausstieg aus der Atomkraft. In den letzten Jahren gehörten wir zu den Hauptorganisatoren der Anti-Atom-Demonstrationen in Deutschland.

Wir verstehen uns als Verband für Nachhaltigkeit, auch weil wir davon überzeugt sind, dass es ein gutes Leben und eine gute Zukunft nur geben wird, wenn das Allgemeinwohl auf Dauer absoluten Vorrang vor privatem Reichtum bekommt und das heutige Regime der Kurzfristigkeit beendet wird. Wir sind überzeugt: Soziale und ökologische Gerechtigkeit gehören untrennbar zusammen. Die großen Ideen von Emanzipation, Freiheit und Gerechtigkeit können nur verwirklicht werden, wenn es zu mehr Demokratie in Wirtschaft und Gesellschaft kommt. Die Finanzmärkte dürfen nicht länger herrschen, sondern müssen dienen. Der öffentliche Sektor muss reformiert und gestärkt werden. Dafür müssen wir die Lähmung überwinden, die sich in den letzten Jahren ausgebreitet hat.

Unsere Zeit braucht neue Konzepte. Die Politik muss sich von der Wachstumsabhängigkeit lösen und das Regime der Kurzfristigkeit beenden. Es muss zu einer stärkeren Politisierung der öffentlichen Debatte kommen. Es geht um das Notwendige, nicht um das scheinbar nur Machbare. Wir brauchen wieder soziale Utopien, die eng mit ökologischen Utopien verbunden sind.

Das komplette Antragsbuch finden Sie hier: www.spd-link.de/antragsbuch, den Antrag der NaturFreunde Deutschlands im Bereich U – Antrag 51.