„In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (Maschinerie und Geld) - und was damit zusammenhängt, daß eine Klasse hervorgerufen wird, welche alle Lasten der Gesellschaft zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, welche aus der Gesellschaft herausgedrängt, in den entschiedensten Gegensatz zu allen andern Klassen forciert wird;“
Deutsche Ideologie, MEW 3, S. 69
2018 war ein Jahr, in dem in nahezu allen Bereichen an den 200. Geburtstag von Karl Marx gedacht wurde. Auch die NaturFreunde beschäftigten sich in vielen Ortsgruppen mit Lesungen, Diskussionen, kulturellen Beiträgen und politischen Veranstaltungen mit der Geschichte und der Aktualität des marxistischen Denkens. Karl Marx war einer der großen Vordenker der Arbeiter*innenbewegung, ohne dessen theoretisches und politisches Geschick die Entwicklung der sozialdemokratischen und später kommunistischen Parteien völlig anders verlaufen wäre. Auch die Gründung der NaturFreunde, als Teil der Arbeiter*innenbewegung, wäre ohne die Entwicklung der Gewerkschaften und Parteien der organisierten Arbeiter*innenschaft nicht vorstellbar gewesen. Die theoretischen Schriften von Karl Marx, die einen „wissenschaftlichen Sozialismus“ begründeten, gaben und geben bis heute Inspiration für links und fortschrittlich denkende Menschen.
Auch die NaturFreunde werden bis heute von Marx' Werken beeinflusst. Seine Überzeugung, dass es im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung zu einem Fortschreiten der Produktivkräfte kommen werde, hat das Denken der Arbeiter*innenbewegung intensiv geprägt. Viele Jahrzehnte wurden Arbeit und Umweltschutz als Gegensätze verstanden. Bereits in den 1970er Jahren haben sich die NaturFreunde gegen diese schematische Vorstellung gewandt und für eine ökologische und soziale Transformation gekämpft.
Die NaturFreunde entschieden sich, im 200. Marx-Jahr, ganz im Sinne des Namensgebers, eine theoretische Fachtagung zum Thema „Arbeit gegen Natur? Marx und die ökologische Frage“ durchzuführen. Mit verschiedenen Referaten und einer intensiven Diskussion sollte untersucht werden, inwieweit der Begründer des „Marxismus“ in seinem Wirken die Ökonomie und die Ökologie verbunden hat. In Kooperation mit der Rosa-Luxemburg-Stiftung wurde die Veranstaltung von den NaturFreunde Deutschlands in den Räumlichkeiten der Stiftung durchgeführt.
Mehr als 80 Teilnehmer*innen aus vielen Landesverbänden der NaturFreunde waren zu der Tagung angereist, um sich gemeinsam mit der Geschichte der Ökologie bei den NaturFreunden sowie dem Wirken und den Auswirkungen des Denkens von Karl Marx auf die Entwicklung der NaturFreunde auseinanderzusetzen. Die Fachtagung wollte vor allem einen Beitrag dazu leisten, anhand aktueller Diskussionen und wissenschaftlicher Arbeiten den „grünen Marx“ vorzustellen. Wie ein roter Faden zog sich durch die Fachtagung das Verständnis, die Theorien von Karl Marx unter ökologischen Gesichtspunkten zu untersuchen und zu hinterfragen.
Eröffnet wurde die Fachtagung von Dagmar Enkelmann, der Vorsitzenden der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Sie zeigte anhand der aktuellen Diskussionen über den Ausstieg aus der Kohleverstromung auf, dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen wirtschaftlicher Entwicklung und ökologischer Nachhaltigkeit bis heute in Gewerkschaften, Unternehmensverbänden und innerhalb der Gesellschaft zu intensiven Diskussionen führt. Auch heute noch wird versucht, Arbeit und Ökologie als Gegensatz darzustellen. Es sei jedoch Aufgabe von linken Verbänden und Parteien, mit dem Angebot einer Transformationsstrategie eine konkrete Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen mit der Verbesserung der ökologischen Rahmenbedingungen zu verbinden. Anhand von aktuellen Diskussionen in der Rosa-Luxemburg-Stiftung machte sie deutlich, dass die Erarbeitung einer linken ökologischen Strategie eine grundlegende Notwendigkeit für die Zukunftsfähigkeit der politischen Linken sei. Sie gab ihrer Hoffnung Ausdruck, dass es in Zukunft zu einer intensiveren Zusammenarbeit zwischen NaturFreunden und Rosa-Luxemburg-Stiftung kommt.
Janeta Mileva vom Bundesvorstand der NaturFreunde Deutschlands dankte der Rosa-Luxemburg-Stiftung für die organisatorische und finanzielle Unterstützung zur Durchführung der Fachtagung. Sie verwies auf die Gründung der NaturFreunde als Freizeitverband mit dem Bildungsanspruch, die Arbeiter*innenbewegung auf dem kulturellen Gebiet voranzubringen, indem die Arbeiter*innen durch eine sinnvolle Freizeitgestaltung geschult und weiterentwickelt werden. Die Erholung in der Natur wurde auch immer mit einem bildungspolitischen Anspruch verbunden, die Zusammenhänge zum Verstehen gesellschaftlicher Entwicklungen aufzuzeigen. Indem sie die Natur mehrheitlich nicht romantisierten, sondern den Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Entwicklungen und Naturverständnis herstellten, trafen die NaturFreunde auf den Marxismus als Hauptströmung der Arbeiter*innenbewegung. Die Fachtagung solle dazu beitragen, sich mit der Geschichte der NaturFreunde auseinanderzusetzen. Ziel sei, dass die theoretischen Entwicklungen innerhalb der NaturFreunde zugleich auf ihre heutige Relevanz überprüft und mit den aktuellen Entwicklungen in Verbindung gebracht werde.
Im ersten Panel führte Prof. Dr. Rolf Hecker (Vorsitzender des Berliner MEGA-Fördervereins und des Kuratoriums der Hellen Panke – Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin) in die aktuelle Marx-Forschung ein. Unter dem Titel „Ökologie und Marx – passt das zusammen? Neuere Erkenntnisse der Marx-Engels-Forschung“ verdeutlichte er anhand der neuesten Erkenntnisse der MEGA-Forschung, dass sich in dem riesigen schriftlichen Nachlass von Karl Marx hunderte von Seiten zum Thema Ökologie finden. Auf Grundlage seiner bekanntesten Schrift, dem „Kapital“, zeigte der Referent auf, dass die ökologischen Überlegungen von Marx im zweiten und dritten Band des Kapitals, die erst nach seinem Tod veröffentlicht wurden, bei der Editierung von Friedrich Engels nahezu unberücksichtigt blieben. So konnte heute der Eindruck entstehen, dass sich Marx nicht mit ökologischen Fragen und den Grenzen des Wachstums beschäftigt habe. Hecker wies weiter darauf hin, dass Marx in seinen Aufzeichnungen immer mehr zu der Überzeugung kam, dass die Natur nicht ohne Folgen vom Menschen ausgebeutet und unterworfen werden kann, sondern es aufgrund von physikalischen und natürlichen Gesetzen klare Grenzen in ihrer Nutzung gibt.
Dr. Judith Dellheim von der Rosa-Luxemburg-Stiftung führte die Teilnehmenden anhand der wissenschaftlichen Arbeit von Kohei Saito „Natur gegen Kapital: Marx' Ökologie in seiner unvollendeten Kritik des Kapitalismus“ in die Diskussionen und Schriften von Karl Marx zum Thema Ökologie ein. Kohei Saito rekonstruierte in seiner Analyse systematisch die unvollendete Marx’sche ökologische Kritik des Kapitalismus auf Grundlage der neuen Marx-Engels-Gesamtausgabe. Hierbei untersuchte er viele bisher unbekannte naturwissenschaftliche Exzerpte von Marx und zeigte auf, dass sich Marx sehr systematisch mit dem Widerspruch zwischen Kapitalismus und Umwelt beschäftigt hatte. Judith Dellheim machte darauf aufmerksam, dass die Studie von Saito sehr gut aufzeige, wie sich die theoretischen Vorstellungen von Marx zum Verhältnis zwischen Natur und Gesellschaft durch sein intensives Studium der naturwissenschaftlichen Veröffentlichungen seiner Zeit verändert haben.
Im zweiten Panel unter dem Titel „Marxistische Tradition im Widerstreit mit lebensreformerischen und revisionistischen Diskursen innerhalb der NaturFreunde“ führten Regina Schmidt-Kühner (Bundesvorstand NaturFreunde Deutschlands) und Uwe Hiksch (Bundesvorstand NaturFreunde Deutschlands) in die Diskussionen der NaturFreunde seit ihrer Gründung im Jahr 1895 ein. Die beiden Referent*innen, die kurzfristig für den erkrankten Hans-Gerd Marian eingesprungen waren, verdeutlichten unter Verweis auf die Diskussionen innerhalb des Verbandes, dass viele der Debatten zwischen den Hauptströmungen der Arbeiter*innenbewegung – allen voran zwischen SPD und KPD – auch die Diskussionen innerhalb der NaturFreunde geprägt hatten. Die Debatten um die richtige Form der Politik und des Klassenkampfes innerhalb und zwischen den Parteien, aber auch die Ausdifferenzierung der Positionen in den Parteien selbst, spielten auch bei den NaturFreunden eine wichtige Rolle. Es kam nicht von ungefähr, dass sich Ende der 1920er Jahre viele Funktionär*innen der NaturFreunde den Zwischenorganisationen innerhalb der Arbeiter*innenparteien, wie SAP, KPO und ISK zuwandten, da sie die jeweiligen Parteidogmatismen nicht akzeptierten.
Gleichzeitig waren die Diskussionen innerhalb der NaturFreunde von ihrer sehr ausdifferenzierten inhaltlichen Arbeit und damit verbundenen Widersprüchen geprägt:
- Auf der einen Seite waren die NaturFreunde der „Touristenverein“, der den Arbeiter*innen die Möglichkeit zum Entdecken und Reisen erschließen wollte. „(A)us grauer Städte Mauern“ sollten die Proletarer*innen „in die Welt“ reisen können. Auf der anderen Seite sahen die NaturFreunde sehr schnell die zerstörerische Wirkung eines sich verstärkenden Tourismus auf die begehrten Destinationen.
- Einerseits waren die NaturFreunde Sportler*innen, die mit ihren Hauptsportarten Wandern, Wassersport, Wintersport und Bergsport eine Naturnutzung organisierten. Andererseits erkannten die NaturFreunde sehr schnell die negativen Auswirkungen des sich entwickelnden Alpinismus für die Natur, setzten sich mit den Auswirkungen des zunehmenden Wassersportes auf entlegene Wildbäche auseinander und diskutierten die zunehmende Benutzung von Wäldern und Tälern für den Wanderbetrieb.
- Zum einen waren die NaturFreunde Häuserverband, der den Mitgliedern und Arbeiter*innen schöne Übernachtungs- und Freizeithütten schaffen wollte. Zum anderen sahen die NaturFreunde durchaus kritisch die Zunahme der Alpenhütten in den entlegensten Tälern und die Notwendigkeit zu größeren Häusern Anlieferstraßen und Parkplätze zu schaffen.
- Auf der einen Seite waren die NaturFreunde geprägt durch ihre Mitgliedschaften in den Industriegewerkschaften und den Kampf um sichere Arbeitsplätze und höhere Löhne. Auf der anderen Seite sahen die NaturFreunde die zerstörerische Kraft der zunehmenden „großen Industrie“ für die Natur und die Umwelt.
Im dritten Teil der Fachtagung gingen der Bundesvorsitzende der NaturFreunde Deutschlands, Michael Müller, und Uwe Hiksch vom Bundesvorstand der NaturFreunde Deutschlands auf den „Natur- und Umweltschutzgedanken im Marxismus im Spiegel der heutigen Zeit“ ein. Michael Müller zeigte in seinem Referat „Wachstumskritik im Widerspruch zum marxistischen Fortschrittsgedanken?“ auf, dass viele der heutigen Probleme in der damaligen Zeit in ihrer Dramatik noch nicht gesehen werden konnten. Anhand der vielen Auslegungen des historischen Materialismus, der die Entwicklung der Technologie und Produktivkraft im Kapitalismus unkritisch bejahe, müsse untersucht werden, wo Defizite in der marxschen ökonomischen und gesellschaftlichen Konzeption seien und hier neue Antworten erarbeitet werden. Hiksch machte in seinem Referat, „Das Ökologie- und Umweltverständnis bei Marx und seine Auswirkung auf eine moderne Kapitalismuskritik“, deutlich, dass Marx wichtige erste Grundlagen einer systematischen Theorie der Natur im Kapitalismus entworfen habe, die weit über den Fortschrittsoptimismus der damaligen Zeit hinausgingen. Er habe schon damals im Laufe seiner Forschungen ein ausgeprägtes Gespür für die Folgen von Umweltschäden und der Zerstörung der Natur entwickelt. An Beispielen wie der Verknappung von Ressourcen, der Verschmutzung der Umwelt oder der Bodendegradation in der Landwirtschaft habe er zu heute noch aktuellen Umweltproblemen gearbeitet. So führte Marx bereits in den Grundrissen aus: „Alle Produktion ist Aneignung der Natur von seiten des Individuums und vermittelst einer bestimmten Gesellschaftsform […] Der Mensch lebt von der Natur, heißt: Die Natur ist ein Leib, mit dem er in beständigem Prozeß bleiben muß, um nicht zu sterben“.
In einer Abschlussdiskussion mit Michael Müller (Bundesvorsitzender der NaturFreunde Deutschlands) und Johano Strasser wurde intensiv über den ökologischen Zustand der Erde und mögliche Alternativen zum heutigen Ausbeutungssystem der kapitalistischen Industriegesellschaft diskutiert.
Die Anwesenden waren sich einig, dass solche grundlegenden theoretischen Veranstaltungen auf jeden Fall fortgesetzt werden sollen. In ihrem Schlusswort bedankten sich Janeta Mileva und Dagmar Enkelmann für die intensive Diskussion.
Uwe Hiksch
Bundesvorstand der NaturFreunde Deutschlands