von Kai Niebert, Präsident des Deutschen Naturschutzringes und Bundesvorstandsmitglied der NaturFreunde
Es ist paradox: Wir haben es geschafft, dass die Vielfalt technisch produzierter Gegenstände – vom Bleistift bis zum Jumbo-Jet – mittlerweile die Vielfalt der natürlichen Arten unserer Erde übersteigt. Schätzungen zufolge gibt es bereits mehr als eine Milliarde verschiedener „Technofossilien“, also vom Menschen produzierter Gegenstände.
Und während die sogenannte „Technovielfalt“ weiter zunimmt, nimmt die biologische Vielfalt stetig ab: Alle 20 Minuten stirbt eine Art aus, drei pro Stunde und 72 am Tag. Diese Uhr des Todes tickt erbarmungslos und schuld ist der Mensch. Wir verursachen gerade das größte globale Artensterben seit dem Verschwinden der Dinosaurier.
Um diese ökologische Katastrophe – immerhin lebt der Mensch von der Natur – in Deutschland aufzuhalten, hat die Bundesregierung im Jahr 2007 die „Nationale Strategie für Biologische Vielfalt“ erlassen, ein Paket mit 330 Zielen und 430 Maßnahmen, um das weitere Artensterben zu verhindern.
Deutschland hat mit dieser Strategie international Maßstäbe gesetzt, kein Staat hat so ein ausgefeiltes Programm vorgelegt. Doch die eigentliche Umsetzung hinkt zehn Jahre später immer noch den Zielen hinterher. Heute ist jede dritte Tier- und Pflanzenart in Deutschland gefährdet, zwei Drittel aller Lebensräume sind bedroht. Selbst die Bestände früherer Allerweltsarten wie zum Beispiel dem Kiebitz oder der Feldlerche gehen massiv zurück. Besonders dramatisch ist die Situation bei den wirbellosen Tieren, zu denen die Insekten gehören: Knapp 46 Prozent der untersuchten Arten sind bedroht, extrem selten oder gar ausgestorben.
Der Artenschwund ist für nahezu alle Organismen dokumentiert. Bekannt ist längst, dass der größte Feind der Artenvielfalt in Deutschland die völlig fehlgeleitete Landwirtschaftspolitik ist. Denn die fördert die Zerstörung von Lebensräumen statt den Erhalt einer gesunden Landschaft. Das Problem muss also politisch gelöst werden.
Und trotzdem kann auch jeder Einzelne etwas zum Erhalt der Artenvielfalt beitragen. Die NATURFREUNDiN macht fünf Vorschläge:
Kaufen Sie beim Biobauern
Die größten Feinde von Käfern, Bienen und Eidechsen sind künstliche Pflanzenschutzmittel und massenweise ausgebrachter Dünger. Nicht nur, dass dadurch mittlerweile ein Drittel aller Grundwasser in Deutschland vergiftet wurden – genau: vergiftet. Tatsächlich sind Pflanzenschutzmittel und Dünger auch pures Gift für die Lebewesen.
Deshalb: Kaufen Sie gesunde Lebensmittel, die ohne Pestizide und unnötig viel Dünger hergestellt werden. Ihr Biobauer weiß, wie das geht. Und kaufen Sie bei ihm um die Ecke oder auf dem Wochenmarkt: 30 Prozent aller bedrohten Tier- und Pflanzenarten sind nämlich als Folge des Welthandels in Gefahr. Allein in Deutschland sind 395 Arten nur durch Importe und Lieferketten gefährdet. Wer beim Biobauern kauft, der tut nicht nur etwas für seine Gesundheit, sondern auch etwas für die Gesundheit der Natur.
Machen Sie es wie Ihre Oma
Weltweit werden mehr als 19 Milliarden Hühner, 1,4 Milliarden Rinder und jeweils eine Milliarde Schweine und Schafe gehalten. Die brauchen Platz. 80 Prozent der Äcker und Felder gehen derzeit für die Tierhaltung drauf. Den größten Flächenanteil braucht dabei das Futter. Die Intensivtierhaltung funktioniert mit Soja aus Südamerika. Millionen Hektar einmaliger Lebensräume sind durch den Soja-Anbau vernichtet worden, was zu einem drastischen Rückgang der Artenvielfalt führte. Damit nicht genug: Die Soja-Monokulturen brauchen Unmengen an Pestiziden. Der weltweit immer weiter wachsende Fleischkonsum macht die Natur kaputt und ist extrem schlecht für das Klima.
Machen Sie es wie Ihre Oma! Wenn Sie in der Woche kein Fleisch essen, werden Sie sich auf den Sonntagsbraten freuen, wie es Ihre Großmutter getan hat. Auch das ist gesünder für Sie wie auch für die Natur.
Essen Sie die Vielfalt
Wussten Sie, dass es etwa 30.000 essbare Pflanzenarten gibt – in der Regel aber nur rund 30 Pflanzen auf unsere Teller kommen? Bei uns sind überwiegend sogenannte Hochertragssorten im Anbau, deren Einzelpflanzen genetisch identische Klone sind. Wir essen „Klon-Food“. Eine einzige Winterweizensorte kann in Deutschland leicht auf hunderttausend Hektar Anbaufläche kommen. Bei etwa 250 Pflanzen pro Quadratmeter sind dies dann rund 250 Milliarden identische Klone – Einfalt statt Vielfalt. Warum legen Sie beim nächsten Grillabend nicht einmal einen Quinoa-, Lupinen-, und Weiße- Bohnen-Burger auf den Grill. Sie werden merken: Vielfalt schmeckt.
Gärtnern Sie mit der Biene
Glockenblumen statt Petunien, Ziest statt Geranien und Blausterne statt Hyazinthen: Wenn Sie Ihrem Garten – und auch den Bienen – etwas Gutes tun wollen, bauen sie besser alte, heimische Sorten statt Exoten an. So können Sie sich nicht nur an deren Blütenpracht erfreuen, sondern bieten Bestäubern aller Art ein kontinuierliches Blüten- und damit Nahrungsangebot.
Sorgen Sie für eine artenfreundliche Stadt: Verzichten Sie auf Gifte im Garten, und falls Sie tatsächlich noch keinen Apfelbaum im Garten haben, pflanzen Sie eine alte, regionale Sorte. Die sind oft aromatischer und an den Standort angepasst.
Laden Sie Ihre Nachbarn ein
Wenn Sie die ersten vier Punkte abgearbeitet haben, zeigen Sie Ihren Nachbarn, wie lecker Vielfalt schmeckt. Und kommen Sie mit Ihren Nachbarn ins Gespräch! Die EU fördert derzeit mit fünf Milliarden Euro pro Jahr den Einheitsbrei großer Agrarfabriken, die das Grundwasser vergiften, während die kleinen Höfe sterben. Es ist ein echter Skandal: Da werden mit Steuermitteln Lebensmittel billig gehalten, die Existenzen vernichten. Anders gesagt: Bio ist nur deshalb teuer, weil der Landwirtschaftsminister es so will. Und es ist eben nicht nur ihre private Kaufentscheidung, die die Artenvielfalt retten wird, sondern vielmehr eine vernünftige Landwirtschaftspolitik. Sobald die Preise die Wahrheit sagen, wird Bio das mit Abstand günstigste Produkt im Supermarkt werden.
Deshalb: Senden Sie dem Landwirtschaftsminister einem gepfefferten Brief, dass Sie künftig gesundes und artenreiches Essen wollen! Das hilft dann auch der biologischen Vielfalt, ohne die wir nicht überleben werden.
Dieser Artikel erschien zuerst in der NATURFREUNDiN 3-2017.