Die soziale Gerechtigkeit darf nicht von der ökologischen getrennt werden

Ein Kommentar von Kai Niebert, Bundesvorstand der NaturFreunde und des Deutschen Naturschutzrings

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Kennen Sie den Musculus „levator labii superioris“? Es ist der Muskel, mit dem wir die Nase rümpfen können. Aktiv wird er immer dann, wenn wir Ekel verspüren. Aber nicht nur. Hanah Chapman, Biologin an der Universität Toronto, hat herausgefunden, dass ihre Probanden den gleichen Gesichtsausdruck aufsetzten, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlten. In diesem Wahlkampf muss niemand die Nase rümpfen, jede Partei hat sich dem Thema Gerechtigkeit verschrieben. Je nach politischer Couleur stehen mal Leistung (CDU), Chancen (SPD), Gleichheit (DIE LINKE), Umwelt (Grüne) oder die eigene Nation (AfD) hoch im Kurs.

Kaum ein Begriff ist so unscharf wie die Gerechtigkeit. Ludwig Erhard formulierte einst: „Ich habe es mir angewöhnt, das Wort Gerechtigkeit nur in Anführungszeichen auszusprechen, weil ich erfahren habe, dass mit keinem Wort mehr Missbrauch getrieben wird als gerade mit diesem höchsten Wert.“ Meist wird Gerechtigkeit verstanden als Beseitigung von Hunger und Armut, Schaffung von Arbeit und Bildungschancen. Die gute Nachricht: Weltweit konnten der Hunger halbiert und die Kindersterblichkeit gesenkt werden.

Während es im Kampf gegen die Armut Fortschritte gab, leidet aber die Umwelt: „Arme erkranken häufig an Lärm und Feinstaub.“ „Kinder schon heute Opfer des Klimawandels.“ So lauteten jüngste Schlagzeilen. Die Parteien könnten sich eigentlich ihre Wahlversprechen sparen und einfach das umsetzen, was sie längst beschlossen haben: zum Beispiel die Globalen Nachhaltigkeitsziele der UNO. Das sind 17 Ziele und 169 Maßnahmen, um die Welt gerechter zu machen: etwa anständige Arbeitsplätze für alle (Ziel 8), Arbeiterkindern gleiche Chancen in der Bildung verschaffen (Ziel 4), Klima (Ziel 13), Böden (Ziel 15) und Ernährung (Ziel 2) schützen.

Subventionen schaden der Umwelt
Bereits im Jahr 2001 kam die OECD zu dem Ergebnis, dass bei uns etwa 35 Prozent der Subventionen der Umwelt schaden. Nach den Berechnungen des Umweltbundesamtes sind in Deutschland Subventionen von mehr als 59 Milliarden Euro als umweltschädlich einzustufen – Tendenz steigend. Mehr als ein Drittel davon entfällt auf den Verkehrsbereich:

  • Befreiung von der Kerosinsteuer im Luftverkehr (circa 7 Milliarden Euro),
  • Mehrwertsteuerbefreiung für internationale Flüge (4,7 Milliarden Euro),
  • Entfernungspauschale (5,1 Milliarden Euro),
  • Dieselvergünstigungen (7 Milliarden Euro).

Die Kosten dafür fallen gleich dreifach an: Erstens müssen die Subventionen gezahlt werden, zweitens entstehen so Umwelt- und Gesundheitsschäden und drittens fehlt das Geld bei der Verbesserung der sozialen und ökologischen Lage.

Eine gerechte Zukunft finanzieren
Was geschehen muss, ist klar: eine gerechte Zukunft finanzieren, statt das Gestern zu zementieren. Das wäre schon heute möglich. Nehmen wir etwa die Entfernungspauschale: Die Unternehmen des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) nehmen deutschlandweit jedes Jahr rund fünf Milliarden Euro durch den Ticketverkauf ein. Würde die Entfernungspauschale gestrichen und dafür der ÖPNV deutschlandweit kostenfrei gemacht, kostete das: nichts. Die Subvention wäre sinnvoll eingesetzt, die Umwelt würde besser geschützt und die alleinerziehende Krankenschwester käme kostenlos zur Arbeit. Das wäre gerecht. An vielen Stellen braucht es nur Mut, um Deutschland gerechter zu gestalten. Doch das wird nur möglich, wenn wir die soziale und die ökologische Gerechtigkeit als das verstehen, was sie sind: untrennbar miteinander verbundene Zwillinge.

Dieser Artikel erschien zuerst in der NATURFREUNDiN 3-2017.