Otto Margulies war ein Pionier des Behindertenbergsteigens und auch NaturFreund
Otto Margulies war ein Pionier des Behindertenbergsteigens und NaturFreund – und noch vieles mehr. Wie vielfältig und wohl auch widersprüchlich Margulies war, lässt sich schon aus der Inschrift seines Grabsteins erahnen: „OTTO MARGULIES, geb. 24. Mai 1899, verunglückte in der Hochtor-Nordwand am 29. Juni 1925. Alpenverein Donauland. Alpinistengilde im TV ‚Die Naturfreunde‘. Burschenschaft im BC ‚Constantia‘ zu Wien.“
Was Margulies, der nur 26 Jahre alt wurde, am Wichtigsten war, lässt sich hingegen sehr kurz sagen: das Bergsteigen. Seit seinem 13. Lebensjahr ging der Wiener regelmäßig in die Berge, auch auf anspruchsvolle Touren. 1917, im Alter von 18 Jahren macht er Matura, wie das Abitur in Österreich heißt, und meldet sich gleich als Freiwilliger zur Gebirgsartillerie. Doch schon im Oktober desselben Jahres stürzt er während einer Bergtour auf der Rax, einem Massiv an der steirisch-niederösterreichischen Grenze, ab. Vermutlich wegen eines Behandlungsfehlers musste später ein Bein amputiert werden.
Für den Sportler Margulies muss das ein Schock gewesen sein. Schließlich nahm er die Behinderung aber als Herausforderung. Denn es wird berichtet, dass er mit seiner Prothese immer neue Kletter- und Skitechniken entwickelt habe. Parallel dazu studierte er Chemie und Germanistik und arbeitete in einer Bank.
Im Jahr 1920 trat Margulies der Sektion Bayerland des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (DuOEAV) bei. Als sich aber im DuOEAV der Antisemitismus immer mehr durchsetzte und ihm der Ausschluss aus Bayerland drohte, wechselte der Sohn eines jüdischen Vaters und einer “arischen Mutter” – so hieß es später im Nachruf – 1921 in die Wiener DuOEAV-Sektion Donauland. Die galt – und gilt bis heute – allgemein als jüdische Sektion, weil ihre Gründung eine Antwort auf den Ausschluss der Juden aus fast allen anderen Sektionen bildete. Gleichwohl war Donauland ein konfessionell ungebundener Verein, der bis 1924 noch unter dem Dach des DuOEAV existierte. Otto Margulies wurde bei Donauland bald 2. Schriftführer.
Wohl auch in dieser Zeit trat Margulies der Alpinistengilde der NaturFreunde bei. Die Gilde war vereinsintern nicht unumstritten, schließlich handelte es sich um einen exklusiven Kreis ambitionierter Alpinisten, der mit den NaturFreunde-Konzepten des Sozialen Wanderns nicht viel anfangen konnte. Für Margulies aber waren die NaturFreunde sehr willkommen – schließlich kümmerte sich hier niemand um seine jüdische Herkunft, und wegen seiner Behinderung wurde er auch nicht gesondert behandelt.
Mit seiner Prothese schaffte Margulies alpinistische Leistungen, die bis heute als sensationell gelten müssen: 1920 gelang ihm die Erstbesteigung der Totenköpfl-Südostwand im Gesäusegebirge. Im gleichen Jahr folgte – wiederum als Erstbesteigung – die Sommerstein-Nordwand in den Berchtesgadener Alpen. Und 1923 bestieg er alleine den Dent du Géant im Montblanc-Gebiet.
Weil ihn die Prothese bei langen Touren zu sehr behinderte, hatte Margulies sich dem Klettern verschrieben. Seine Erlebnisse notierte er in vielen Tourenberichten. Ein in einer Fachzeitung veröffentlichter Aufsatz trägt beispielsweise den Titel: „Über die Möglichkeiten des invaliden Bergsteigers“.
Ein Wettersturz führte zur Katastrophe
1924 wurde Margulies im Guttenberghaus im Dachsteingebirge trotz Unwetters die Unterkunft verweigert. An der Hütte, die der DuOEAV-Sektion „Austria“ gehörte – die wiederum vom antisemitischen Hetzer Eduard Pichl schon früh „arisiert“ worden war – hingen Schilder mit der Aufschrift: „Juden und Mitglieder des Vereins ‚Donauland‘ sind hier nicht erwünscht“. Margulies riss, als er tatsächlich gehen musste, den Zettel ab und nahm ihn mit. „Eine arge Verletzung des Gastrechts“ warf ihm Austria-Pichl daraufhin vor.
Im Juni 1925 war Margulies dann mit drei Freunden in der Hochtor-Nordwand im Gesäusegebirge unterwegs. Ein Wettersturz bewirkte eine Katastrophe: Insgesamt 13 Alpinisten kamen dort an diesem Tag um. Auch Otto Margulies.
Im Donauland-Vereinsblatt wurde später empört vermerkt, dass Donauland-Mitglieder als Bergretter abgewiesen wurden, „damit man nicht sagen kann, die arische Sektion Reichensteiner lasse sich bei einer Bergung von Juden helfen“. Immerhin schaffte es die DuOEAV-Sektion Bayerland, Margulies, den Begründer des Behindertenbergsteigens, mit einem Nachruf über zweieinhalb Seiten zu ehren.
Auch Donauland und die NaturFreunde trauerten um diesen großen Bergsteiger. Der österreichische Soziologe Roland Girtler notierte im Jahr 1991 in einem Aufsatz für die jüdische Kulturzeitschrift David über Margulies: „Nur wenige werden heute noch wissen, welche Traditionen und welche menschlichen Probleme hinter den Aufschriften auf seinem Grabstein stehen.“
Martin Krauss
Dieser Artikel erschien zuerst in NATURFREUNDiN 3-2014.