Im Zeitalter der Städte bekommt die Kommunalpolitik einen zentralen Stellenwert
Die Stadt ist Seismograf und Treiberin des Wandels, der heute in den Gesellschaften stattfindet. Gehe in die Stadt und du weißt, was auf uns zukommt. Unser Jahrhundert wird ein Jahrhundert der Städte sein. Dort entscheidet sich, ob wir die großen sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit bewältigen können: bezahlbare und angemessene Wohnungen, der Zusammenhalt der Gesellschaften, die Abwendung der Klimakrise.
Die Jungsozialisten (Jusos) veranstalteten 1971 in Mannheim einen legendären kommunalpolitischen Kongress und starteten eine politische Reformbewegung. Sie entdeckten damals nicht nur die Kommunen als Arbeitsfeld, sondern entwarfen auch ihre „Doppelstrategie“. Die sollte den Druck von außen auf die Gremien verstärken, um in den Institutionen Strukturreformen durchzusetzen. Dafür wollten die Jusos ein politischen Problembewusstsein in der Bevölkerung schaffen und diese anhalten, ihre Interessen nachdrücklich zu vertreten. Eine politische Gegenmacht gegen übermächtige Wirtschaftsinteressen war das Ziel.
Ausgangspunkt der „antikapitalistischen Kommunalpolitik“ war der Verlust kommunaler Handlungsfähigkeit durch die Konzentration wirtschaftlicher Macht. Sie nahm Städten und Gemeinden die Luft zum Atmen. Bürger*innen konnten immer weniger Einfluss auf sie betreffende Entscheidungen nehmen. Zugleich führten Arbeitsteilung und Konsumangebote zur Vereinzelung der Menschen und legten einen der Widersprüche der Stadt offen: Sie zählt immer mehr Einwohner, macht immer mehr Angebote, aber die Bindungen an die Gemeinschaft werden schwächer. Sozialwissenschaftler*innen sprechen von einer Zunahme an individuellen Optionen bei einem Verlust an gemeinschaftlichen Bindungen.
Zusammenspiel von gemeinwohlorientierter Politik und solidarischem Leben
Der Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hatte schon 1965 in Die Unwirtlichkeit unserer Städte den irrationalen Charakter von Stadtplanung kritisiert. Er hielt eine menschenwürdige Entwicklung in den Städten nur mit einer Neuordnung des Grund- und Bodenbesitzes für möglich. Gute und lebenswerte Städte brauchen ein Zusammenspiel zwischen am Gemeinwohl orientierter Politik und solidarischem Leben. Doch bis heute ist die Bodenfrage nicht sozial gerecht gelöst und sozial schwächere Haushalte werden an den Rand gedrängt.
Heute bekommt die Kommunalpolitik erneut einen zentralen Stellenwert. Wir brauchen einen neuen Anlauf zur Gegenmacht in unserer überbevölkerten, verschmutzten, ungleichen und störanfälligen Welt. Denn das 21. Jahrhundert wird eine Zeit der Städte sein. Mitte des Jahrhunderts werden fast 70 Prozent der Menschheit in Städten wohnen, die nur neun Prozent der Landfläche ausmachen. Das ist eine gewaltige Konzentration sozialer, ökologischer und ökonomischer Herausforderungen.
Weil die Nationalstaaten an Bedeutung verlieren, werden die großen urbanen Räume global umso wichtiger. Den Bürger*innen am nächsten, gewinnen die großen Städte an Gestaltungskraft und kooperieren in vielen Bereichen bereits global. Um die Klimakrise zu überwinden oder die sozialen Ungleichheiten zu verringern, können die Städte wichtige Beiträge leisten. Sie können zeigen, was zu tun ist, um schnell von der Überlastung der Natur runterzukommen und die natürlichen Ressourcen zu schonen.
Der große Umzug in die Städte hat längst begonnen. Seit 2008 leben mehr Menschen in urbanen Räumen als in ländlichen Regionen. Nach UN-Angaben gibt es mehr als 550 Millionenstädte. Im Jahr 1900 waren es 13, 1950 dann 86. Mitte unseres Jahrhunderts werden wahrscheinlich über 700 Millionenstädte gezählt werden. Die Bevölkerung in allen Städten wird von heute knapp vier Milliarden auf dann 6,5 Milliarden steigen und mehr als zwei Drittel aller Menschen werden in Städten leben.
Wir stehen am Beginn eines Zeitalters, das von den Städten geprägt werden wird. Städte können Orte der Modernisierung sein, aber auch der Konzentration von Armut und Niedergang. Zentren des Glamours und der Unterhaltung, von Wissenschaft, Forschung und Innovationen, oftmals Ausgangs- oder Endpunkt der globalen Lieferketten. In ihnen haben Banken, Versicherungen, Konzerne und die Politik ihre Zentralen.
Die Globalisierung schwächt Nationalstaaten und stärkt die Bedeutung urbaner Zentren. Bürger*innen identifizierten sich oft mehr mit ihrer Stadt als mit ihrer Nation, weil Städte sich in Zukunftsfragen wie Klimaschutz, Verkehrswende oder Frieden mehr engagieren als nationale Regierungen. Die Frage ist, ob wir die Zukunft der Städte den Investor*innen und ihren Interessen überlassen oder ob die Städte zu Orten des demokratischen Gemeinwohls werden. Wem gehört die Stadt? Die sozialen und ökologischen Herausforderungen verlangen uns eine Antwort auf diese Frage ab. Wie 1971 heißt es auch heute: „Kommunalpolitik für wen?“
Michael Müller